Ausgerechnet die 1907 eröffnete, prachtvoll dekorierte, jüngst jedoch zunehmend marode Union Station diente US-Präsident Joe Biden als Kulisse für seine letzte große Rede vor den heißumkämpften Midterm-Wahlen in den USA am kommenden Dienstag. Über 22 Gleise verfügt Washingtons Hauptbahnhof, von dort aus verlassen die Amtrak-Züge die US-Hauptstadt in Richtung von Bidens Heimatstadt Wilmington, zur New Yorker Penn Station und weiter nach Boston.

Seine monumentale Architektur und Cameo-Auftritte in einer Myriade von Hollywoodfilmen – darunter der Psychothriller "Hannibal" und der Neunziger-Klamauk "Ein Präsident für alle Fälle" – machen die Washingtoner Union Station zu einem der bekanntesten Verkehrsbauwerke der USA – und zu einem Symbol für die Transformationen, vor denen das mächtigste Land der Welt steht.

Angst-Ort als Bühne

Seitdem die Covid-Pandemie viele der einst florierenden Geschäftszeilen und Food Courts in der weitläufigen Empfangshalle verwaisen und zusperren ließ, gilt die Washingtoner Union Station vielen Hauptstädterinnen und Hauptstädtern nämlich als Angst-Ort – sogar die sonst allgegenwärtige Kaffeekette Starbucks nahm unlängst Abschied: Zu unsicher sei das Gelände, um dort noch in Ruhe Geschäfte zu machen, hieß es.

Im Columbus Club in der Washingtoner Union Station sprach Biden vor 350 geladenen Gästen – und dem TV-Publikum.
Foto: REUTERS/Leah Millis

Und auch vielen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern, so zeigen Umfragen, macht die hohe Inflation von aktuell 8,2 Prozent größere Angst als die Tiraden Donald Trumps und seiner Fans, vor denen Biden am Mittwochabend zur besten TV-Sendezeit an diesem symbolträchtigen Ort so deutlich wie selten zuvor warnte. Mit – für seine Verhältnisse – harschen Worten skizzierte der sonst so auf Ausgleich bedachte Demokrat, wohin die Reise seiner Meinung nach geht, sollten sich die Republikaner nicht bald eines Besseren besinnen: in Richtung Zerstörung der Demokratie.

Joe Biden warnte rund eine Woche vor den Kongresswahlen republikanische Kandidaten und Kandidatinnen, das Wahlergebnis anzuerkennen. Alles andere wäre der "Weg ins Chaos", so Biden. Man müsse gegen politische Gewalt zusammenstehen.
DER STANDARD

Wenn am Mittwoch die 435 Abgeordneten im Repräsentantenhaus, 35 der 100 Senatorinnen und Senatoren sowie die Gouverneurinnen und Gouverneure von 36 der 50 US-Bundesstaaten neu gewählt werden, steht für die USA in den Augen ihres Präsidenten mehr auf dem Spiel, als es sonst bei Zwischenwahlen der Fall ist: "In einem normalen Jahr sind wir nicht mit der Frage konfrontiert, ob die von uns abgegebene Stimme die Demokratie bewahrt oder sie gefährdet", sagte Biden. "Aber dieses Jahr sind wir es."

Kein gutes Haar ließ Biden an seinem Vorgänger Donald Trump. Dieser habe sein Amt missbraucht, konzedierte der Präsident.
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Umfragen vor der Wahl lassen ein Debakel für die Demokraten erwarten, neben dem schon fast eingepreisten Verlust ihrer Mehrheit im "House" droht die Präsidentenpartei auch in der zweiten Kammer, dem Senat, in Minderheit zu geraten – Biden wäre eine "Lame Duck", eine lahme Ente, die der republikanischen, meist noch immer Donald Trump zugewandten Mehrheit in vielen politischen Agenden hilflos ausgeliefert wäre.

Selten deutliche Worte

Konkret wie selten zuvor setzte der Präsident daher zu einer Schelte in Richtung der "Maga-Republikaner" an, wie Biden die Anhängerinnen und Anhänger Trumps anhand ihres Slogans "Make America Great Again" nennt: Wahlergebnisse nicht zu akzeptieren sei "der Weg ins Chaos", mahnte er mit Fingerzeig auf jene Partei, deren abgewählter Präsident Trump seine Niederlage vor zwei Jahren bis heute nicht akzeptiert – und die auch heuer wieder eifrig zündeln.

291 von insgesamt 569 republikanischen Kandidatinnen und Kandidaten bei den heurigen Midterms, so rechnete die "Washington Post" vor kurzem vor, zweifeln das Ergebnis der Präsidentenwahl an. Für Biden ein skandalöses, ein "unamerikanisches" Verhalten, schließlich stünden auch bei den anstehenden Midterm-Wahlen auf allen Ebenen Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl, "die sich nicht dazu verpflichten wollen, die Ergebnisse der Wahlen zu akzeptieren, an denen sie teilnehmen."

Sorge hinsichtlich politischer Gewalt

Der Umstand, dass es der etablierten Politik schon einmal, am 6. Jänner 2021 nämlich, nicht gelang zu verhindern, dass ein von seinem Vorgänger Donald Trump aufgehetzter, rechtsextremer Mob das Kapitol stürmte und Trumps abtrünnigen Vizepräsidenten Mike Pence mit dem Tode bedrohte, müsse Alarmsignal genug sein. "Wir müssen uns mit überwältigender Stimme gegen politische Gewalt und Einschüchterung von Wählern stellen", forderte Biden und erinnerte bei der Gelegenheit an den lebensgefährlichen Überfall auf Paul Pelosi, den 82-jährigen Ehemann der demokratischen Mehrheitsführerin Nancy Pelosi. "Wir müssen uns diesem Problem stellen", fügte er an, denn: "Wir können nicht so tun, als würde es sich von allein lösen."

Ein wenig klang in Bidens Stimme aber auch das Wissen um den beschränkten Einfluss auf den Lauf der Dinge durch, über den er als Präsident verfügt. So, als wolle er verhindern, dass nachher jemand behauptet, nicht geahnt zu haben, was kommt, sprach der bald 80-Jährige wenige Tage vor der wohl wichtigsten Midterm-Wahl seit Jahren: "Ich wünschte, ich könnte sagen, dass der Angriff auf unsere Demokratie an diesem Tag zu Ende gegangen ist. Aber das kann ich nicht." Nun liege es an den Wählerinnen und Wählern, die Notbremse zu ziehen. (Florian Niederndorfer, 3.11.2022)