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Je mehr Vertrauen in der Familie herrscht, desto leichter ist es für Kinder, über ihre eigenen Gefühle oder auch übergriffige Erlebnisse zu sprechen. Wichtig auf jeden Fall: eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen und dem Kind zuhören.

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In Wien sind derzeit zwei Kindergartenpädagogen – unabhängig voneinander – mit dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs konfrontiert. Details zu den Fällen sind nicht bekannt, solche Nachrichten lösen aber bei vielen Eltern Sorge aus. Denn es ist wohl das Schlimmste, was man sich vorstellen kann, dass das eigene Kind von einem anderen Menschen missbraucht wird. Doch wie reagiert man als Eltern auf einen entsprechenden Verdacht? Wie kann man feststellen, dass das eigene Kind womöglich einem Übergriff ausgesetzt ist? Und wie kann man mit seinem Kind darüber sprechen?

Man sollte mit Fingerspitzengefühl vorgehen – gerade weil es so emotional ist, sagt Anna Schwitzer, Psychotherapeutin und Leiterin des Kinderschutzzentrums in Wien. "Bei diesem extrem schwierigen Thema sind nachvollziehbarerweise die Emotionen im Vordergrund. Aber gibt man diesen sofort nach, trifft man womöglich Entscheidungen, die man im Nachhinein, mit etwas Reflexion, anders getroffen hätte." Aber der Reihe nach:

Was sind überhaupt Anzeichen, an denen man potenzielle Übergriffe erkennen kann? Es gibt Veränderungen, auf die Eltern aufmerksam werden können, sagt Hannes Kolar, klinischer Psychologe und Leiter des Psychologischen Dienstes der Kinder- und Jugendhilfe in Wien: "Ein Missbrauchssyndrom in dem Sinn, bei dem man sich sicher sein könnte, gibt es nicht. Aber es können Verhaltensveränderungen auftreten, die recht plötzlich passieren und auf die man aufmerksam werden sollte. Etwa wenn ein Kind auf einmal nicht mehr in den Kindergarten will, obwohl es vorher gern dort war und es keinen erkennbaren Grund dafür gibt."

Immer offene Fragen stellen

Angstsymptome können auftreten, etwa Albträume oder Einschlafstörungen. Angst vor Berührungen, die früher selbstverständlich waren, beim Kuscheln etwa, können so ein Anzeichen sein. Der Erregungszustand des Kindes kann sich verändern, es kann schreckhafter oder auch apathischer werden. Oder es kommt zu psychosomatischen Symptomen wie auch einmal wieder Bettnässen oder unerklärliche Bauchschmerzen.

Es kann auch vorkommen, dass ein Kind sich verbal äußert, dass jemand böse sei oder es eine Person nicht mag bis hin zu Beschreibungen, was es erlebt hat. Dann soll man sich unbedingt Zeit nehmen für das Kind, eine ruhige, vertraute Atmosphäre schaffen und es erzählen lassen, betont Kolar: "Wichtig ist, dass man offene Fragen stellt. Etwa: Wie geht es dir? Was macht dir Spaß, was gefällt dir nicht? Mit wem kommst du gut zurecht, mit wem nicht so?" Man sollte keinesfalls Suggestivfragen stellen wie "Hat dich an der Scheide oder am Penis jemand berührt?" oder ähnlich Konkretes. "Kinder erkennen die Erwartungshaltung der Eltern und antworten dann oft in einer Form, von der sie das Gefühl haben, dass die Eltern es wünschen. Ergebnisse der False-Memory-Forschung zeigen, wie rasch es bei Kindern zu Erinnerungsverfälschungen durch suggestive Befragung kommen kann. Das Kind berichtet dann von einem Ereignis, das in dieser Weise nicht geschehen ist, ist aber davon überzeugt, dass es wirklich passiert ist."

Erzählt ein Kind in solchen Gesprächen von einem potenziellen Übergriff, ist es unbedingt wichtig, weiter bei den offenen Fragen zu bleiben, etwa: Wie ist es dann weitergegangen? Keinesfalls sollte man zu sehr im Detail nachfragen, das sollte von einer professionellen Institution übernommen werden, sagt Kolar. Denn je öfter ein Kind von seinen Erlebnissen erzählt, desto verwaschener wird das Berichtete. Eltern rät der klinische Psychologe: "Wichtig ist, das Kind für seine Offenheit und sein Vertrauen zu loben und sein Bedürfnis nach Sicherheit ernst zu nehmen, etwa indem es mit dieser Person nicht mehr konfrontiert wird."

Vertraute Atmosphäre schaffen

Je älter ein Kind ist, desto eher kann man tatsächlich über Erlebtes auch reden. Das gelingt aber umso leichter, je mehr Vertrauen in der Familie da ist. Das hilft den Kindern, über ihre eigenen Gefühle zu sprechen und auch ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Psychotherapeutin Schwitzer rät: "Wenn man in der Familie miteinander spricht, die eigenen Gefühle benennt, sein Kind einfach regelmäßig fragt, wie es ihm geht, das geht ja schon bei den ganz Kleinen, dann kann das Kind die eigenen Gefühle auch benennen. Wird darüber nicht gesprochen, dann fehlen dem Kind die beschreibenden Worte."

Das Gleiche gilt auch für Körper- und Geschlechtsteile. Schwitzer weiß: "Aus falscher Scham kann es passieren, dass man die Geschlechtsteile nicht benennt, dann hat das Kind keine Worte dafür. Diese fehlende Verbalisierung vermittelt außerdem, dass man über diesen Bereich des Körpers ohnehin nicht sprechen soll." Und sie betont, dass man Erzählungen des Kindes immer ernst nehmen soll: "Wenn ein Kind Erlebnisse erzählt, soll man die auf keinen Fall kleinreden oder vermitteln, dass es schon nicht so schlimm gewesen sei. Das nimmt ihm das Vertrauen."

Besteht der begründete Verdacht eines Übergriffs, rät Schwitzer, in Folge nicht gleich vorzupreschen, sondern sich im Idealfall an eine Anlaufstelle wie etwa das Kinderschutzzentrum zu wenden, um eine gute Vorgangsweise zu besprechen: "Ist eine Anzeige einmal gemacht, dann kann man sie nicht mehr zurückziehen, das Kind ist Befragungen und mehr ausgesetzt. Man erzeugt dann womöglich beim Kind das Gefühl, auf seine Bedürfnisse wird nicht mehr geachtet, überfährt es sozusagen."

Professionelle Unterstützung holen

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass keine Anzeige gemacht werden soll, wenn diese begründet ist. Aber, sagt Schwitzer: "Es geht darum, einen Mittelweg zwischen Bagatellisieren und Dramatisieren zu finden. Das kann unglaublich schwierig sein, aber ein Moment der Reflexion und auch der Beratung hilft, die beste Entscheidung für das Wohl des Kindes zu treffen." Bis die Entscheidung zur weiteren Vorgehensweise getroffen ist, ist es deshalb wichtig, das Kind zu schützen. Liegt etwa der Verdacht nahe, dass im Kindergarten Übergriffe passieren, dann schickt man das Kind bis zu einer Entscheidung nicht mehr dorthin.

Viel zu oft passiert es auch, dass ein Übergriff in der Familie stattfindet. Auch hier heißt es sicherzustellen, dass das Kind nicht mehr mit der Person, bei der ein Verdacht begründet scheint, alleingelassen wird, bis das Thema geklärt wurde.

All das hilft dabei, bestmöglich eine Klärung herbeizuführen. Denn, wie Schwitzer weiß: "Das Thema ist so tabubehaftet und so emotional, dass es unmöglich ist, die genaue Wahrheit herauszufinden. Natürlich möchten Eltern das, aber viele müssen sich von der Hoffnung verabschieden, völlige Klarheit zu bekommen. Am Ende war man nicht dabei, und das Erzählte ist von vielen verschiedenen Blickwinkeln auf das Geschehene beeinflusst. Oft gibt es keine klare Orientierung, die aber auch die Eltern dringend bräuchten. Sie müssen dann lernen, mit diesem Gefühl der Hilflosigkeit umzugehen, und vor allem dafür sorgen, dass ihr Kind geschützt ist." (Pia Kruckenhauser, 4.11.2022)