"Ziel ist, voneinander zu lernen und daraus ein neues, inklusiveres Narrativ zu erzeugen", so Birgit Bahtić-Kunrath.
Kollarik/ifz

Transdisziplinäre Forschung ist zwar mitunter erkenntnisreich, "aber auch fordernd", sagt Birgit Bahtić-Kunrath. Das hat die Politikwissenschafterin, tätig am Internationalen Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen (ifz) in Salzburg, zuletzt in einem Projekt erlebt. Gemeinsam mit Forschungseinrichtungen aus acht europäischen und drei afrikanischen Ländern setzte sie sich im EU-Migrationsprojekt "Crisis as Opportunities" mit Krisennarrativen auseinander, die die Themen Migration und Integration in EU-Ländern prägen. Dabei widmet sie sich der Frage, ob und wie sich das öffentliche Narrativ über Flüchtlinge seit Beginn des Ukraine-Krieges im Vergleich zur Flüchtlingsbewegung 2015 verändert hat.

Neue Textanalyse-Methode

"Dass es Veränderungen gegeben hat, ist augenfällig", sagt die Forscherin. Über Flüchtlinge aus der Ukraine wurde anders, meist in verständnisvollerem Framing berichtet. "Die Frage ist, wie dieser Unterschied empirisch sichtbar gemacht werden kann." Gemeinsam mit Forschenden anderer Disziplinen, etwa einer auf die Analyse von Narrativen in Romanen spezialisierten Literaturwissenschafterin, wurden Methoden zur Textanalyse entwickelt. Damit sollten Interviews aus Tageszeitungen vergleichbar gemacht werden, die 2015 am Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung und im Februar und März 2022 zu Beginn des Ukraine-Krieges erschienen sind.

"Unsere unterschiedlichen Textzugänge machten die Zusammenarbeit gar nicht so leicht", sagt Bahtić-Kunrath. Während die Politikwissenschaft meist deduktiv arbeitet, also theoriegeleitet Kategorien erstellt und diese sozusagen von außen an die Texte heranträgt, arbeitete ihre Kollegin aus der Literaturwissenschaft induktiv und generierte Kategorien, die aus den Texten selbst erwachsen. Nach hitzigen, aber konstruktiven Diskussionen ist man schließlich fündig geworden: "Zu Kriegsbeginn wurde nicht nur mehr über Flüchtlinge, sondern auch über Vertriebene aus der Ukraine gesprochen."

Flüchtlinge und Vertriebene

Damit wurde eine neue, differenzierende Bewertung des Opferstatus eingeführt: "Im Wort Flüchtlinge schwingt noch ein Rest an aktiver Handlungsmacht mit", sagt Bahtić-Kunrath. "Im Begriff der Vertriebenen verschwindet hingegen die aktive Handlungsmacht fast vollständig aus der Wortbedeutung. Je passiver aber eine Person ist, umso größer ist ihr Opferstatus."

Noch läuft die Inhaltsanalyse. Für das Projekt liefern die bisherigen Ergebnisse bereits spannenden Input. Etwa für die "Crosstalks", ein im Rahmen des Forschungsprojekts entwickeltes Gesprächsformat. Dabei werden Flüchtlinge und inländische Akteure aus Politik, Exekutive und öffentlicher Verwaltung eingeladen, ihre Sicht auf Migration und Flucht darzulegen. Das ifz-Team wird diese Crosstalks im Frühjahr 2023 in Salzburg durchführen. "Ziel ist, voneinander zu lernen und daraus ein neues, inklusiveres Narrativ zu erzeugen." (Nortbert Regitnig-Tillian, 5.11.2022)