Die Anfangszeiten des Internets waren von großer Euphorie über das demokratische Potenzial von internetbasierter Kommunikation geprägt. Was ist mit diesen Hoffnungen passiert? Wo stehen wir heute? Und wie kann es weitergehen? Soziale Medien haben einen Mehrwert für Demokratie und sägen gleichzeitig an ihren Fundamenten. Dessen müssen wir uns bewusst sein und eine zukunftsorientierte Vision sozialer Medien entwickeln, die unser demokratisches Zusammenleben nicht gefährdet, sondern idealerweise fördert.

Annie Waldherr ist Professorin für Computational Communication Science am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Wien und erforscht digitalisierte Öffentlichkeiten und computergestützte Methoden.
Foto: Michael Stehle

Türsteherfunktion des Journalismus ist passé

Man kann sich schon gar nicht mehr vorstellen, wie Öffentlichkeit in den Vorzeiten des Internets funktionierte. Es gab Zeitungen, Fernsehen und Radio. Wer darin zu Wort kam, wurde in erster Linie durch professionelle Journalist:innen bestimmt.

Durch das Internet, und später durch soziale Medien, wurde diese Türsteherfunktion des Journalismus revolutioniert: Jeder und jede mit Internetzugang konnte nun eine Homepage veröffentlichen, sich einen Facebook- oder Twitter-Account anlegen und sich öffentlich zu Wort melden. Nie zuvor war es so leicht, über das direkte Umfeld hinaus Kontakte zu knüpfen, zu pflegen, sichtbar zu werden und Unterstützung zu bekommen. Nie zuvor war es so einfach, Gleichgesinnte zu finden, die gemeinsame Interessen, Meinungen oder Probleme teilen, und sich zu organisieren.

Dies ermöglichte neue soziale Bewegungen wie den Arabischen Frühling, #BlackLivesMatter, #metoo und #FridaysForFuture, die innerhalb kürzester Zeit groß geworden sind, weltweit viel Aufmerksamkeit erhalten haben und weit über ein reines Social-Media-Phänomen hinausgehen. Durch sie bekommen soziale Minderheiten und Gruppen eine Stimme, die sonst von der Mehrheitsgesellschaft überhört würde.

Hajo Boomgaarden ist Professor für Empirische Methoden der Sozialwissenschaften an der Universität Wien und beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der politischen Kommunikation.
Foto: Barbara Mair/ Uni Wien

Heute ist gerade in Krisenzeiten und in autokratischen Systemen die schnelle Verbreitung von Informationen über soziale Medien unerlässlich und ein wichtiger potenzieller Baustein für Demokratisierung. Über sie erfahren die protestierenden Frauen im Iran Unterstützung, können ihre Stimme gegen das unterdrückende Regime erheben und ihre Botschaft weltweit verbreiten. Bilder der Proteste kommen aus und durch soziale Medien zu uns.

Auch im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sind soziale Medien von unschätzbarem Wert. Zum einen wird über sie um Unterstützung geworben und Hilfe für Flüchtende organisiert, zum anderen werden Gräueltaten der russischen Armee über sie publik. Auch auf nationaler Ebene finden Menschen Gehör, die es im politischen Diskurs oft schwer hätten, sich durchzusetzen, aktuell beispielsweise unter #armutsbetroffen.

Social Media – ein Klagelied der Demokratie

Diese demokratischen Potenziale sozialer Medien sind nach wie vor vorhanden und hochaktuell. Jedoch sind sie etwas aus dem Fokus des öffentlichen Interesses geraten und einem Klagelied gewichen. Was ist passiert? Zum einen wurde schnell deutlich, dass auch die Internetöffentlichkeit nicht frei von Machtpositionen und Ungleichheiten ist. Dass alle sich öffentlich äußern können, bedeutet eben nicht, dass alle auch öffentlich Gehör finden.

Netzwerkmechanismen und Plattformalgorithmen führen dazu, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit schnell auf einige wenige konzentriert, die dann den Diskurs bestimmen. Und die Algorithmen sind so gestaltet, dass eben nicht die vertrauenswürdigsten Quellen mit den besten Informationen bevorzugt werden. Sie sind hingegen vor allem auf emotionale, provozierende und polarisierende Botschaften, die viele Nutzer:inneninteraktionen versprechen ausgelegt.

Was tun mit der "Hype-Maschine"?

Soziale Medien werden außerdem auch für problematische Inhalte und Verhaltensweisen genutzt, die weit von demokratischen Praktiken und Werten entfernt sind: Cybermobbing, die Verbreitung von Fake News, Verschwörungstheorien und Hassbotschaften, Cancel-Culture, Manipulation durch Bots etc.

Die Liste der Probleme und Herausforderungen ist lang, noch nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht, geschweige denn politisch und rechtlich gelöst. Klar ist, dass technische Infrastrukturen und menschliches Verhalten sich in einer Art "Hype-Maschine" gegenseitig verstärken (siehe zum Beispiel das gleichnamige Buch von Sinan Aral, 2020). Die Sorge vor anhaltenden Empörungswellen und einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft führt dazu, dass manche sich wünschen, man könnte diesen Prozess wieder stoppen.

Der Druck auf die europäische Politik wächst, die Markt- und Meinungsmacht einzuschränken und die Plattformen vermehrt zur Verantwortung zu ziehen. Erste Schritte wurden mit dem Digital Services Act auf EU-Ebene und nationalen Initiativen wie dem Kommunikationsplattformen-Gesetz oder dem Hass-im-Netz-Bekämpfungsgesetz in Österreich unternommen. Andere Stimmen, wie zum Beispiel Tim Berners-Lee, der Erfinder des Internets, fordern freie und dezentrale Alternativen zu den großen privaten Plattformen. Diesbezüglich entbrennt derzeit eine Diskussion rund um Mastodon als Alternative zu Twitter nach dessen Erwerb durch Elon Musk.

Die bessere Social-Media-Plattform

Wie müsste die bessere Social-Media-Plattform Ihrer Meinung nach aussehen? Im Kern ist diese Frage nicht neu. Schon seit Jahrhunderten beschäftigen sich Philosoph:innen, Soziolog:innen und Öffentlichkeitstheoretiker:innen mit der Frage, wie demokratische Öffentlichkeit gestaltet sein soll. Wer soll sich äußern? Und nach welchen Regeln? Dazu gibt es verschiedene, einander teils stark widersprechende Ansätze.

a) Jeder soll sich äußern dürfen, wie er oder sie will. Wer laut wird, muss damit rechnen, auch Gegenwind und Gegenrede zu bekommen.

b) Es sollten sich nur diejenigen öffentlich äußern, die auch etwas zu sagen haben und über die jeweiligen Themen Bescheid wissen.

c) Alle sollen sich beteiligen und ihre Argumente austauschen, dabei aber bitte höflich, zivilisiert und sachlich bleiben.

d) Gerade diejenigen, die sonst in der Gesellschaft zu kurz kommen und unterdrückt werden, sollen ermutigt werden zu sprechen. Auch Emotionen wie Wut müssen ihren Platz in der Öffentlichkeit haben.

Wenn über Alternativen zu bestehenden Plattformen nachgedacht wird oder wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen für bestehende soziale Medien zur Diskussion stehen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, welche Art von Öffentlichkeit wir eigentlich wollen und wie diese im Verhältnis zu unserem Verständnis von Demokratie steht. Auch die STANDARD-Community ist eine öffentliche Plattform, auf der Diskurs betrieben wird.

Wie sieht eine ideale Plattform für Sie aus? Gibt es Möglichkeiten, das Forum demokratischer zu gestalten? Und wie bewerten Sie andere soziale Medien und ihre Funktion in Bezug auf Demokratie und den öffentlichen Diskurs? (Hajo Boomgaarden, Annie Waldherr, 8.11.2022)