Keep it simple and stable – das KIS-System verändert mit einfachen mechanischen Mitteln das Lenkverhalten.

Foto: Manfred Stromberg / Liteville

Erfinder Jo Klieber erklärt vor dem Testride am Achensee, wie KIS funktioniert.

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Auch bergab sorgen die Federn im Oberrohr für Stabilität der Lenkung. Verliert das Vorderrad auf dem losen Untergrund an Traktion, bleibt die Lenkung dennoch "spürbar" und bietet dadurch mehr Sicherheit.

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Zu Demonstrationszwecken hat Jo Klieber das KIS-System an Testbikes außen montiert. So sieht es aus, wenn das System aktiviert ist.

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Das KIS-System, wenn es deaktiviert ist – was nur bei den Demo-Bikes möglich ist, da es serienmäßig im Oberrohr verbaut wird, wo nur mehr die Vorspannung einstellbar ist.

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Beim Springen sorgt KIS für besseres Gefühl, was das Rad angeht.

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Im neuen Liteville 301CE Mk2 ist KIS bereits "unsichtbar" im Oberrohr verbaut.

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Achenkirch – Jo Klieber hat es wieder getan. Der kauzige Tüftler und Erfinder aus dem bayrischen Tacherting hat sich diesmal die Fahrradlenkung vorgenommen und mit dem KIS-System eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Innovation geschaffen. Als wir Klieber vor zwei Jahren für ein RONDO-Porträt in seiner Werkstatt besucht haben, hatte er gerade die Arbeit daran begonnen. Wie es beim Konstrukteur der Liteville-Bikes Tradition ist, entstand die Idee zu KIS (die Abkürzung steht offiziell für Keep It Stable) eher zufällig und aus einer recht banalen Notwendigkeit heraus.

"Wenn man bastelt, dann passieren einem solche Erfindungen", erklärt Klieber seinen Schaffensprozess. Im Falle von KIS war der Auslöser, dass er sich immer wieder über umkippende Räder in seiner Werkstatt ärgern musste. Das "Glumpert" falle nämlich ständig um, wenn man es mit dem Lenker an die Wand lehne.

Klieber versteht es wie kein Zweiter, seinen Ärger in Innovationen zu transformieren. Und so entstanden gleich zwei neue Patente wegen des "umfallenden Glumperts": KIS, auf das wir in der Folge hier näher eingehen werden, und der um 90 Grad schwenkbare, für Downhill-Einsatz (!) zugelassene Vorbau namens Spaceforce. Letzterer deshalb, weil Klieber auch nervte, dass Mountainbikes mit ihren immer breiteren Lenkern die Gänge in der Werkstatt blockierten.

Einfache Mechanik statt komplizierter Technik

Doch zurück zu KIS, das von seinem Erfinder charmant-bayrisch "Koa instabiler Scheiß" genannt wird. Was für Klieber mit der Idee zum einfacheren Abstellen begonnen hatte, entpuppte sich immer mehr als Möglichkeit, das Lenkverhalten von Fahrrädern, das seit über 100 Jahren unverändert ist, zu verbessern. Und zwar mit einfachen mechanischen Mitteln. Zwei Metallfedern spannen ein Kevlarband, das an einem speziell geformten Ring am Steurerrohr befestigt ist. Die Spannung erhöht sich mit dem Lenkeinschlag und sorgt so für mehr Stabilität und feinfühligeres Lenkverhalten.

Klingt in der Theorie etwas eigenartig. Wer will schon einen Eingriff in seine Lenkung beim Trailfahren? Daher traf das STANDARD-Tretlager Jo Klieber am Achensee, um sich das neue System vom Konstrukteur selbst erklären zu lassen und gleich einem Praxistest zu unterziehen. Der Erfinder packte einige Liteville 301CE Mk1, an denen er KIS-Systeme zu Demonstrationszwecken außen am Oberrohr befestigt hat, und einen Prototyp des Mk2 in sein Wohnmobil. Serienmäßig wird das System bei den 301CE Mk2, als der neuesten Generation des Liteville-E-MTB, im Oberrohr verbaut. Ebenso beim Canyon Spectral, dem ersten Trailbike, das Kliebers Erfindung serienmäßig verbaut hat (siehe Video).

Canyons Video zum neuen KIS-System im Trailbike Spectral.
Canyon Bicycles

Das außen angebrachte Demosystem bietet den Vorteil, dass sich KIS aus- und einschalten lässt – zum Vergleich. Bevor es auf Testfahrt ging, schaltete Klieber die KIS-Vorrichtungen bei allen Rädern ein und plombierte sie: "Nach ungefähr 40 Minuten könnt ihr die Plomben lösen und KIS ausschalten. Dann werdet ihr den Unterschied bemerken." Wie recht er haben sollte!

"Merkst du etwas?"

Denn anfangs war die Verwirrung bei den Testfahrern noch groß. "Merkst du etwas?", lautete die häufigsten Frage, die wir uns gegenseitig stellten. Keiner merkte etwas. Nach dem dank E-Antriebs rasanten Uphill ging es auf den Trail. Auch dort war vorerst nichts von KIS zu spüren – bis wir die Plomben lösten und die KIS-Vorrichtungen deaktivierten. Plötzlich fühlte sich die Lenkung instabil und wackelig an. Fast zittrig, wenn es über lose-schottrigen Untergrund ging.

Schaltete man KIS wieder ein, indem man einfach den Hebel nach hinten klappte und so wieder Spannung auf die Federn brachte, war das Lenkverhalten ein merklich anderes. Plötzlich wurde eine Verbindung zwischen Rahmen und Lenkung spürbar, die sonst nicht da ist. KIS wirkt auf eine ganz eigene Weise, denn man bemerkt es erst, wenn man es nicht mehr hat. So eigenartig das klingen mag, so deutlich ist dieser Unterschied auf dem Trail. Und zwar bergauf wie bergab. Vor allem beim Uphillen über steile und ruppigere Trails hilft die stabilere Lenkung sehr, das Rad in der Spur zu halten – kein Hin-und-her-Gewackel mit dem Lenker mehr. Was vorher "normal" war, fühlt sich plötzlich instabil an.

"Gentlemen, this is no humbug!"

Warum KIS wirkt, kann Klieber stundenlang mit physikalischen Gesetzen und Grafiken erklären. Oder ganz kurz mit einem Zitat des Chirurgen John Collins Warren, einem Begründer der modernen Narkose: "Gentlemen, this is no humbug!" Es geht um den Nachlauf des Vorderrads, der gerade bei Mountainbikes, deren Lenkwinkel immer flacher wurde, mehrere Zentimeter ausmachen kann. Der Nachlauf ist jene Differenz, die zwischen dem Punkt liegt, an dem das Vorderrad den Boden berührt, und jenem, an dem die verlängerte Lenkachse dies tun würde. Praktisch bedeutet das, das Vorderrad wird nachgezogen, wie Klieber erklärt. Je größer der Nachlauf ist, umso mehr Stabilität und Spurtreue bringt er der Lenkung. Je kürzer er aber ist, umso direkter reagiert die Lenkung auf Bewegungen, und man spürt auch den Untergrund besser.

Der Nachteil bei größerem Nachlauf ist jedoch, dass beim Einlenken ein Absenken des vorderen Bereichs am Rad passiert. Dieses Absenken ist sichtbar, wenn man sich vors Rad stellt und auf den Vorbau achtet, wenn eingelenkt wird – er senkt sich. Lenkt man wieder zurück in die Gerade, muss man folglich auch wieder ein Anheben bewerkstelligen, was Kraft braucht. Man benötigt beim Lenken also je nach Einschlagwinkel unterschiedlich starke Krafteinwirkung. KIS hilft mit seinen Metallfedern, diesen Kraftaufwand auszugleichen. Dadurch spürt man als Fahrer die Lenkung viel besser und kann mit minimalem Kraftaufwand viel genauer manövrieren.

Canyon testete mit Profiteam

Canyon, das Kliebers Erfindung im neuen Trailbike Spectral serienmäßig verbaut hat, testete KIS im Zuge der Entwicklung des Rads mit seinen Profi-Athletinnen und -Athleten. Deren Rückmeldungen waren auch für Klieber sehr hilfreich und interessant, wie er erklärt.

Der ehemalige französische Downhill-Weltmeister Fabien Barrel, der jetzt Canyons Weltcup-DH-Team betreut, sei von KIS beeindruckt gewesen. Vor allem die spürbare Verbindung, die das System zwischen dem Vorder- und Hinterteil des Rads herstellt, machte für Barrel den Unterschied. So würden der Two-Wheel-Drift, also das Driften mit beiden Rädern, und das Springen dadurch kontrollierbarer.

Beim Tretlager-Test am Achensee fiel das Fazit zu KIS ebenfalls positiv aus. Spannend war, dass man das System erst bemerkt, wenn es nicht mehr aktiv ist. Noch spannender als der Test am E-MTB wäre wohl, das KIS-System langfristig am eigenen Bio-Mountainbike, dessen Fahrverhalten man gewohnt ist, zu testen. Auf einem 15-Kilogramm-Trailbike muss die Stabilität noch deutlich besser zu bemerken sein als auf einem 24-Kilogramm-E-Hobel.

Klieber ermuntert Bastler

Als Nachrüstsatz ist KIS vorerst aber noch nicht zu haben. Es wird, wie erwähnt, nur im Canyon Spectral und dem Liteville 301CE Mk2 (730-Wh-Akku und Shimano-EP801-Motor) serienmäßig, also im Oberrohr verbaut, angeboten. Das Zusatzgewicht durch KIS beträgt rund 70 Gramm, was beim E-MTB ohnehin vernachlässigbar ist. Die Materialkosten sind ebenfalls sehr gering. Belastungstests in der Syntace-eigenen Teststraße haben ergeben, dass KIS wartungsfrei ein Bike-Leben lang funktioniert. Tests bei Canyon haben dies bestätigt.

Klieber ermuntert aber alle Interessierten und handwerklich Begabten, die gern KIS für ihr Rad hätten, es selbst zu bauen. "Solange es nicht in Serie, sondern für den Eigengebrauch hergestellt wird, unterstütze ich Bastler gerne mit Know-how und notfalls auch mit Material zum 3D-Drucken", sagt der Erfinder.

Pierer von KTM ist neuer Mehrheitseigner von Syntace/Liteville

Das Patent zu KIS hält er, wie alle seine Patente, in der Joe Klieber GmbH, die zu 100 Prozent ihm gehört – anders als seine Firma Syntace, zu der auch die Bikemarke Liteville zählt. Hier stieg vor kurzem der aus Aflenz in der Steiermark stammende Unternehmer Stefan Pierer mit 70 Prozent als Mehrheitseigner und Investor ein. Der KTM-Motorrad-Hersteller hat nichts mit dem Fahrradhersteller namens KTM zu tun, der ebenfalls in Mattighofen in Oberösterreich angesiedelt ist. Seine Pierer Mobility AG hat aber mittlerweile ein breites Portfolio an eigenen Fahrradmarken wie Husqvarna, Gasgas, Felt und Raymon im Angebot. (Steffen Kanduth, 6.11.2022)