Am Samstag gibt Marine Le Pen bei einem Sonderparteitag des Rassemblement National (RN) den Parteivorsitz ab. Der Schritt ist nicht ohne: Die Le-Pen-Familie hatte die Bewegung vor 50 Jahren (als Front National) selber gegründet und zuerst durch Jean-Marie Le Pen, ab 2011 sodann durch seine Tochter geführt.

Die besten Chancen auf die Nachfolge von Marine Le Pen an der Spitze des Rassemblement National hat der erst 27-jährige Shootingstar Jordan Bardella.
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Der Rückzug ist vermutlich doppelt motiviert. Zum einen will die 54-jährige Französin ihre "präsidiale" Statur verstärken, indem sie sich über den – in Frankreich sehr unbeliebten – Parteien positioniert. Auch will sie ihre Partei von ihrem politisch belasteten Familiennamen befreien und damit ein Parteienbündnis mit den konservativen Republikanern ermöglichen.

Kein echter Abschied?

In Wahrheit wird Le Pen den Rassemblement National auch in Zukunft kontrollieren und dominieren, um ihr einziges Ziel zu erreichen: Staatspräsidentin zu werden. Nachdem sie bei der Wahl von 2017 knapp 34 Prozent der Stimmen erzielt und 2022 auf 41,4 Prozent zugelegt hat, visiert sie für 2027 die 50-Prozent-Schwelle an.

Die Dynamik ist unbestreitbar. Bei den Parlamentswahlen in Juni holte ihre Partei unerwartet 89 Sitze in der 577-köpfigen Nationalversammlung. Damit stellt sie die stärkste Fraktion hinter der Regierungspartei namens Renaissance von Staatschef Emmanuel Macron.

Und während Le Pen derzeit aus den sozialen Folgen der Inflation politisches Kapital schlägt, kämpft der Staatspräsident seit dem Verlust der Mehrheit in der Nationalversammlung mit dem Rücken zur Wand. Die RN-Chefin stimmte dieser Tage geschickt für einen Misstrauensantrag des Linksbündnisses "Nupes" (Nouvelle union populaire écologique et sociale) gegen Macron – und steht damit mit einem Mal als parteiübergreifende Oppositionschefin da.

Aufregung um Rassismusaffäre

Ihre eigenen, politisch oft unbedarften Abgeordneten hat sie angewiesen, nur noch in Anzug und Krawatte bzw. im Kostüm zu erscheinen und in den Parlamentsdebatten gesittet aufzutreten. Das gelingt nicht immer: Diese Woche unterbrach der RN-Abgeordnete Grégoire de Fournas den schwarzen Linksvertreter Carlos Martens Bilongo mit dem Ruf, er solle doch "zurück nach Afrika" gehen.

Die linke Ratshälfte erhob sich wütend rufend von den Sitzen, die Debatte wurde unterbrochen. De Fournas verteidigte sich in den Wandelgängen, er wolle nur die Schlepperbanden, die Migranten von Libyen nach Italien brächten, nach Afrika zurückschicken. Das nimmt ihm aber außerhalb seiner Partei niemand ab. Bilongo verlangte am Freitag den Rücktritt des RN-Abgeordneten wegen Rassismus. Unüblicherweise schaltete sich sogar Präsident Emmanuel Macron ein, um die "untolerierbaren Worte" anzuprangern. Die Nationalversammlung schloss de Fournas am Freitag für zwei Wochen vom Parlamentsbetrieb aus. Das ist die Maximalsanktion für einen Abgeordneten.

Im Zuge der Affäre kam ein früherer Twitter-Dialog des RN-Abgeordneten de Fournas ans Tageslicht. Ein afrikanischstämmiger Mann namens Herwan Bisca erkundigte sich auf Twitter: "Hallo, meine Frage mag vielleicht komisch erscheinen, aber ich würde gerne wissen, ob es im Dorf Saint-Aubin-du-Médoc eine Bevölkerungsvielfalt gibt. Wir sind ein schwarzes Paar und haben keine Lust, in der Bäckerei von Oma und Opa angestarrt zu werden oder zu erleben, dass unsere Kinder auf dem Pausenplatz zur Dorfattraktion werden."

Auf diese Frage zu einem Winzerdorf, das auf einen Ausländeranteil von 1,8 Prozent kommt, antwortete de Fournas erbost: "Schockiert das niemanden? Habe ich auch das Recht zu fragen, ob es zum Beispiel in Lormont (einem Einwanderervorort von Bordeaux mit einem Ausländeranteil von 20 Prozent, Anm.) noch Weiße gibt, nur weil ich keine Lust habe, dort allein zu sein? Wenn Herwan mit Schwarzen sein will, kann er ja nach Afrika gehen."

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Bardella gegen Aliot

Für Marine Le Pen kommt die Rassismusaffäre vor dem Parteitag höchst ungelegen. Ihre ganze Strategie zur politischen Salonfähigkeit wird als aufgesetzt entlarvt. Sogar die Wahl des neuen RN-Vorsitzenden rückt damit in den Hintergrund.

Le Pen inszeniert zu dem Zweck ein Duell zwischen zwei ihrer engsten Getreuen. Die besten Chancen hat der erst 27-jährige Shootingstar Jordan Bardella, ein Sohn italienischer Arbeitereinwanderer, der in der Pariser Banlieue aufgewachsen ist. Er tritt genauso geschliffen und gestylt auf, wie es sich Le Pen wünscht. Bardella führt die Partei bereits interimistisch und ist mit einer Nichte Le Pens liiert, weshalb er als Teil der Familie gilt.

Der zweite Kandidat, Louis Aliot (53), ist Bürgermeister der Pyrenäenstadt Perpignan. Er vertritt die in Südfrankreich sehr starke Fraktion der Kolonialrückkehrer, die bis heute dem Verlust der "Algérie française" nachtrauern. Der frühere Lebenspartner von Marine Le Pen scheint heute – politisch gesprochen – für die scheidende Chefin nur noch zweite Wahl zu sein. Im parteiinternen Wahlkampf fiel Aliot jedenfalls vor allem durch die Bemerkung auf, er sei "nicht so dumm zu glauben", dass er eine Siegeschance habe. So denkt man offenbar als Kandidat beim Rassemblement National. (Stefan Brändle, 5.11.2022)