Bei Sonnenschein kann sich Kiew mit seinen gut gefüllten Läden, belebten Restaurants und geschäftigen Cafés noch immer normal anfühlen. Doch sobald die Nacht anbricht, legt sich eine unheimliche Finsternis über die Hauptstadt. Die Passanten kramen ihre Smartphones aus den Taschen, aktivieren die Taschenlampenfunktion und leuchten sich den Weg durch die spärlich beleuchteten Straßen. Manche tragen Stirnlampen, andere Licht reflektierende Kleidung.

Denn seit Wochen werden viele Straßenbeleuchtungen und Leuchtreklamen ausgesetzt, und sowohl in Restaurants als auch in Bars und in den privaten Wohnungen isst und trinkt man immer häufiger bei Kerzenlicht, erzählt Barkeeper Artem, der in der Bar 13 Cocktails zubereitet. Die zentral gelegene Kneipe hat bis zehn Uhr abends geöffnet, damit den Angestellten bis zum Einsetzen der Ausgangssperre noch genügend Zeit zum Aufräumen, für die Buchhaltung und den Weg nach Hause bleibt.

Taschenlampen und Smartphone-Licht gehören nachts für viele in Kiew längst zur Standardausstattung.
Foto: APA/AFP/GENYA SAVILOV

Manche Gespräche zwischen den jungen Menschen, die sich an den Stehtischen aus Holz drängen, drehen sich um das Wesentliche: die Besorgungen für die kommenden kalten Wochen. Die Ausfälle in der Strom- und Wasserversorgung. Andere trinken schweigend gedankenverloren ihr Getränk, während Artem die Oberfläche des Tresens wischt. "Die Leute kommen zu uns zum Abschalten", sagt der 28-Jährige, der seit sieben Jahren in der Bar kellnert. Die Kneipe ist in diesen Zeiten auch deshalb ein beliebter Treffpunkt, weil sie sich in einem Keller befindet. Ein mutmaßlich sicherer Ort bei Raketenangriffen, sagt Artem. "Aber in den vergangenen Wochen haben wir so, wie die meisten Lokale in der Stadt, weniger Kundschaft."

Kritische Stromversorgung

Die Ausgangssperre um elf Uhr nachts, die während der Sommermonate an warmen Abenden vielfach mit einer letzten Getränkerunde to go begangen wurde, fühlt sich nun wieder wie eine Zäsur an. Und die beinahe täglichen Ausfälle in der Strom- und Wasserversorgung tragen ihr Übriges zur Stimmung bei. Und dazu, dass die Arbeitsbedingungen für kleine Unternehmen und Gastronomiebetriebe, die für Arbeitsplätze und Steuereinnahmen sorgen, zunehmend schwieriger werden.

Seitdem Russland am 10. Oktober eine Serie an massiven Angriffen auf die ukrainische Infrastruktur gestartet hat, mit Raketen und iranischen Drohnen, gehört Stromsparen in der Ukraine zum Alltag. Laut dem ukrainischen Netzbetreiber Ukrenergo sind rund um die Uhr etwa 1.000 Spezialisten unter schwierigsten Bedingungen und oft unter Einsatz ihres Lebens damit beschäftigt, die Stromversorgung nach dem Beschuss innerhalb weniger Stunden wiederherzustellen.

Foto: Daniela Prugger

"Dieses Tempo können wir dank der zuvor angelegten Bestände an notwendiger Ausrüstung beibehalten. Darüber hinaus erhalten wir Unterstützung von europäischen Netzbetreibern, die mit Verbrauchsmaterial und Ausrüstung für die Reparatur und Wiederherstellung unserer Infrastruktureinrichtungen aushelfen", sagt Ukrenergo-Chef Wolodymyr Kudrytskyi. Die EU-Kommission hat zuletzt auch Lieferungen von Kabeln, Generatoren und Transformatoren ermöglicht. Denn die Wiederherstellung der Infrastruktur liegt auch im Interesse der Europäischen Union. Allein im Jahr 2021 belief sich das Gesamtvolumen der Stromimporte aus der Ukraine auf 3.495,4 Millionen kWh, erklärt Kudrytskyi. Und im März dieses Jahres wurde die Notsynchronisierung des ukrainischen und des moldauischen Stromnetzes mit dem kontinentaleuropäischen Netz ermöglicht, um die Stabilität des Stromnetzes zu gewährleisten. Doch seit dem 11. Oktober und den russischen Raketenangriffen auf eine Reihe von Umspannwerken wurden Stromexporte auf Beschluss des ukrainischen Energieministeriums ausgesetzt.

Stromsparen morgens und abends

Damit das Stromnetz nicht überlastet wird und die angerichteten Schäden repariert werden können, fordern Ukrenergo und die Regierung die Bewohnerinnen und Bewohner dazu auf, insbesondere während der morgendlichen und abendlichen Spitzenlastzeiten sparsam mit Licht, Waschmaschinen und elektrischen Heizkörpern umzugehen. Der Umfang der freiwilligen Verbrauchsreduzierung liegt laut Kudrytskyi im Durchschnitt zwischen fünf und fünfzehn Prozent. "Das sind erhebliche Mengen für unser Stromsystem. Leider reicht dies in den Regionen, in denen die Infrastruktur am stärksten beschädigt wurde, nicht aus, und Ukrenergo ist gezwungen, auf erzwungene Einschränkungen zurückzugreifen."

Er rät den Bürgern, ihre Telefone und Powerbanks immer aufgeladen zu halten, einen Wasservorrat anzulegen, die Häuser winterfest und energieeffizienter zu gestalten. "Über die Ziele Russlands sollte man sich keine Illusionen mehr machen: Sie wollen die vollständige Zerstörung des ukrainischen Stromsystems."

Gelegentlich beleuchten Autos das Stadtbild.
Foto: APA/AFP/GENYA SAVILOV

Die kommenden Wochen und Monate in der Ukraine werden hart. Und die Szenen am 31. Oktober, als der russische Raketenangriff dafür sorgte, dass die Pumpen für die Wasserversorgung außer Betrieb gesetzt und laut Bürgermeister Witali Klitschko achtzig Prozent der Wasserversorgung in der Stadt lahmgelegt wurden, hatten etwas Vorahnendes an sich. Bewohnerinnen und Bewohner, die an den städtischen Wasserpumpstationen ihre Vorräte auffüllten. Geschlossene Läden. "Wenn wir kein fließendes Wasser haben, bedeutet das, dass wir die Gläser nicht abspülen können und dass weder die Kunden noch wir die Toiletten benutzen können", erklärt Artem, der Barkeeper in der Bar 13.

So wie viele in Kiew sagt auch Artem, dass man sich ausstatten müsse für den Winter. Doch so richtig vorbereiten auf das, was kommt, könne man sich sowieso nicht. Als Bar setze man derzeit noch auf Kerzen und auf kleinere Maßnahmen – wie etwa die Umbenennung des Cocktails White Russian. Er heißt mittlerweile "200th". Diese Zahl – oder "Cargo 200", – ist ein militärisches Codewort, das im russischen Militär den Transport von Opfern bezeichnet. Der Code kommt im Namen der Website 200rf.com des ukrainischen Innenministerium vor. Auf der Website wird russisches Personal bekannt gemacht, das während der russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 getötet oder gefangen genommen wurde. (Daniela Prugger aus Kiew, 6.11.2022)