Fotografiepuristen betrachten Smartphone-Kameras gerne etwas abschätzig. Mit einer "echten" Kamera könne so etwas nie im Leben mithalten – und das werde sich auch nicht ändern. So oder so ähnlich wird das wohl jeder, der sich auch nur am Rande für das Thema interessiert, schon einmal in Diskussionen hier oder an anderer Stelle gelesen haben.

Zeitenwechsel?

Aus dieser Perspektive mögen die Worte von Terushi Shimizu, Chef von Sony Semiconductor Solutions, geradezu Blasphemie sein. Stellte dieser doch vor einigen Monaten in einer Präsentation die These auf, dass Smartphones klassische Kameras schon bald überflügeln werden. Und zwar nicht bei irgendeinem Randthema, sondern bei der Bildqualität selbst – also einer der Kernstärken von großen Kameras. Bereits im Jahr 2024 soll dieser Punkt erreicht sein, ist Shimizu überzeugt.

Vom Zeitablauf etwas zurückhaltender, in der Tendenz aber gleich, sieht das Judd Heape aus der Kameraabteilung von Chiphersteller Qualcomm. Auch dieser ist davon überzeugt, dass Smartphones schon in wenigen Jahren klassische Kameras bei der Bildqualität abhängen werden, wie er vor wenigen Wochen in einem Interview mit Android Authority zu Protokoll gab.

Google liefert mit dem Pixel 7 Pro derzeit eine der besten Smartphone-Kameras ab.
Foto: Proschofsky / STANDARD

Nun muss natürlich betont werden: Das sind zunächst einmal nur zwei ausgewählte Stimmen, andere aus der Branche mögen diese Meinung nicht teilen. Trotzdem sind die beiden jetzt auch nicht irgendwer, sondern Vertreter von zwei etablierten Branchengrößen. Insofern drängt sich die Frage auf, wie sie eigentlich auf diese Idee kommen – und ob sie damit gar so falsch liegen, wie es zunächst scheinen mag.

Vergleiche anstellen

Dabei hilft es üblicherweise einmal zu ermitteln, wie der Status quo wirklich ist – also jenseits all der subjektiven Wahrnehmung und alter Vorurteile. Genau das hat Stephen Shankland, Kameraexperte bei CNET, vor kurzem getan und Googles Pixel 7 Pro gegen seine Canon 5D Mark IV mit zahlreichen Objektiven – in Summe würde dieses Set-up rund 10.000 US-Dollar kosten – antreten lassen.

Klingt alleine schon angesichts des Preises und des wesentlich kompakteren Auftretens des Smartphones unfair, umso überraschender mag für manche das Ergebnis sein. Ja, die DSLR macht in Summe die besseren Bilder, wenn sie jeweils mit dem passenden Objektiv kombiniert und entsprechend Zeit investiert wird. Bei vielen der Testkategorien war der Vorsprung aber deutlich kleiner als erwartet – und in einzelnen Situationen hat das Smartphone sogar die Nase vorne.

Im Detail

Bei Tageslicht haben sich die beiden Kontrahenten wenig zu schenken, nur bei sehr naher Betrachtung fällt auf, dass die DSLR durch die höhere Megapixelzahl (30 vs. 12 Megapixel) und den größeren Sensor zusätzliche Details erhält. Beim Fotografieren von Personen spielt das Pixel beim Fokussieren von Gesichtern seine Stärken aus, dafür bietet die Profikamera natürlich einen echten Bokeh – wohingegen Smartphones diesen üblicherweise weiter mit KI-basierter Software emulieren, was eine gewisse Fehlerneigung hat und weniger natürlich wirkt.

Hinweis: Im weiteren Verlauf des Twitter-Threads finden sich noch zahlreiche andere Vergleichsfotos.

Große Fortschritte haben Smartphones zuletzt im Bereich Telefotografie gemacht. Das Pixel 7 Pro verspricht dabei ansehnliche Aufnahmen bis zu einem Faktor 30 – das wäre äquivalent zu einem Zoom-Bereich von zwölf bis 720 mm. Realistischerweise muss man hierbei anmerken, dass die Bilder bis zu einer Vergrößerung um den Faktor zehn oder 15 noch sehr gut sind – darüber dann aber deutlich nachlassen, also nicht so direkt verglichen werden können.

Physik

Gerade bei kleineren Faktoren leistet die Smartphone-Kamera aber ganze Arbeit. Obwohl es sich hierbei "nur" um eine smarte Version von Digitalzoom handelt, der die 5x-Optik und einen 2x-Crop vom Hauptsensor kombiniert (dank Binning, wer mehr dazu wissen will, sei auf den eigenen Artikel zu dem Thema verwiesen). Aber klar: Mit einem guten Teleobjektiv wird eine "echte" Kamera wohl noch länger im Vorteil sein, das ist einfache Physik, auch wenn aktuelle Smartphones ihr Bestes tun, diesen Nachteil durch smarte Software wettzumachen.

Die Vorteile des Smartphones zeigen sich dann am Abend. Von Haus aus schießt das Pixel dank der "Nachtsicht"-Funktion nämlich erheblich bessere Fotos. Um vergleichbare Aufnahmen aus seiner DSLR zu bekommen, musste Shankland schon mehrere Fotos mit unterschiedlichen Belichtungszeiten aufnehmen und dann manuell kombinieren. Das natürlich auf einem Stativ, da die längste Belichtung mit 30 Sekunden sonst verwackelt wäre. Eine wichtige Anmerkung: Zu einem Teil liegt das natürlich an dem gewählten Objektiv. Trotzdem zeigt das Smartphone hier gut, was mit smarter Software und so kleiner Optik alles möglich ist.

Smarte Software

Angesichts der unleugbaren Sensor- und Optikvorteile einer halbwegs aktuellen, großen Kamera stellt sich die Frage: Wie ist so etwas möglich? Die Antwort nennt sich "Computational Photography". Smarte Algorithmen und jede Menge Maschinenlernen – landläufig künstliche Intelligenz genannt – haben jene Bildqualität, die aktuelle Smartphones so bieten, in den vergangenen Jahren erst möglich gemacht.

Eine Grafik, mit der Apple vor einigen Jahren Computational Photography illustriert hat. Mittlerweile ist das Ganze noch erheblich komplizierter und aufwendiger geworden.
Foto: Apple

Die Zeiten, als die Kamera-App eines Smartphones einfach das Bild vom Sensor erfasst und nach minimaler Verarbeitung auf dem Datenspeicher abgelagert hat, sind längst vorbei. Heutzutage analysieren Smartphones den Inhalte einer Szene schon vor der Aufnahme, um allerlei Optimierungen vorzunehmen. Ob Autofokus, Weißabgleich und andere Kernfunktionen einer Kamera – all das läuft mittlerweile KI-optimiert und eben in gezielter Anpassung an das jeweilige Motiv.

Kombination in Echtzeit

Vor allem aber speist sich so ein Smartphone-Foto schon längst nicht mehr aus einer Aufnahme, sondern aus einer Fülle von einzelnen Bildern, die in Echtzeit kombiniert werden, um eine möglichst gute Bildqualität mit wenig Rauschen und vielen Details zu erhalten. Genau dieser Trick ist es auch, der erst solche Funktionen wie Googles "Nachtsicht" – oder ähnliche Funktionen anderer Hersteller – ermöglicht. Im Gegensatz zu einer klassischen Langzeitbelichtung hat dies zudem den Vorteil, dass es viel schneller ist.

Eigene Hardware

Hinter all dem stehen dann noch gezielt für diese Aufgaben optimierte Chips, die die nötige Rechenkraft für die smarte Software liefern. Diese Kombination ist es denn auch, die die Vertreter der einleitend erwähnten Firma zu ihrer Prognose gebracht haben, etwas Vergleichbares gibt es bei "echten" Kameras schlicht nicht. "Die Rechenkraft in einem aktuellen Snapdragon-Chip ist etwa zehnmal so hoch als bei den besten Nikon- und Canon-Kameras", umreißt Qualcomms Judd Heape denn auch den Status quo.

Vor allem zeichnet sich derzeit keine Verlangsamung bei der Weiterentwicklung von Smartphone-Kameras ab – ganz im Gegenteil befinden wir uns gerade an der Schwelle zu einem nächsten Generationswechsel. Dank auch physisch immer größer werdender Kamerasensoren zahlt es sich bei Smartphones nämlich langsam wieder aus, die Megapixelzahl zu erhöhen, um zusätzliche Details zu erfassen. Gleichzeitig sorgt die Weiterentwicklung bei der Rechenkraft der bildverarbeitenden Chips dafür, dass "Computational Photography" bald auch bei diesen höheren Auflösungen ihre volle Wirkungskraft entfalten kann, was noch einmal neue Optionen in Hinblick auf die Bildqualität eröffnet.

Variabler Zoom

Doch auch in anderen Bereichen ist die technische Weiterentwicklung bei Smartphone-Kameras derzeit rasant. So arbeiten einige Hersteller an einem echten optischen Zoom für ihre Geräte, der also variabel angepasst werden kann. Das sollte dann noch einmal einen Qualitätssprung im Vergleich zu den aktuellen Kameras mit fixer Vergrößerung sein – egal wie "smart" die dahinterstehende Software den Hardwarenachteil auszugleichen versucht.

Aber was heißt das jetzt?

Wird ein Smartphone damit "echte" Kameras schon bald in allen Bereichen überflügeln? Nein, natürlich nicht. Wer genug Geld investiert und jeweils das passende Objektiv für das gewünschte Einsatzgebiet mit sich herumschleppt, wird damit auch auf absehbare Zeit jedes Smartphone abhängen können – zumindest am Tag. Von Fragen, dass man einen gewissen Look sucht, oder vom Fotografieerlebnis selbst einmal natürlich abgesehen, beides wird für Liebhaber immer unersetzlich bleiben.

Für Profis werden "echte" Kameras auch weiterhin die erste Wahl bleiben, Smartphones lassen die Zielgruppe aber zunehmend schrumpfen.
Foto: PHILIP FONG / AFP

Gleichzeitig ist aber auch klar: Smartphones drängen "echte" Kameras in eine immer kleinere Nische. Nach billigen Kompaktkameras verdrängen sie mittlerweile zunehmend die Mittelklasse, die Anschaffung einer großen Kamera rentiert sich eigentlich nur mehr für Enthusiasten – und natürlich Profis. Vor allem aber bleibt die alte Erkenntnis, dass die beste Kamera immer die ist, die man dabeihat – und da ist ein kompaktes Smartphone unzweifelhaft im Vergleich zu einer Profikamera mit einer Fülle von unterschiedlichen Objektiven die bessere Wahl. Gerade diese Flexibilität ist es, die in der Gesamtbetrachtung für viele wohl jetzt schon der entscheidende Vorteil von Smartphones ist – von der Kostenfrage einmal ganz abgesehen.

Bonusfrage

Freilich wirft all das auch noch eine weitere Frage auf, und zwar eine, der sich Canon und Co besser heute als morgen stellen sollten: Warum arbeiten die klassischen Kamerahersteller nicht längst mit Hochdruck daran, aus den Kameratricks der Smartphones zu lernen? Immerhin klingt der Gedanke, Top-Hardware mit den Softwarestärken der "Computational Photography" und aktuellen KI-Tricks zu kombinieren, ziemlich verlockend.

Das könnte natürlich leichter gesagt als getan sein. Neben der zusätzlichen Hardware ist es vor allem die Software, die hier eine Hürde darstellt. Immerhin müssten die Hersteller dafür ihre Systeme grob umkrempeln – und viel dazulernen, wenn man sich den Zustand der Software auf so manch aktueller Profikamera ansieht. Bleibt zu hoffen, dass sich eher früher als später der erste großer Hersteller dazu durchringen kann, diesen Weg zu beschreiten. Für bessere Fotos warat's. (Andreas Proschofsky, 5.11.2022)