Mit der Teuerung und der Energiekrise stehen Martin Kocher, Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft, herausfordernde Aufgaben bevor.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

1. Arbeitsmarkt I – Österreich wird mehr Zuwanderer brauchen

Die Lücken sind im Alltag nicht mehr zu übersehen. Ob der Elektroladen um die Ecke oder das Gasthaus im Ferienort: Überall fehlen Betrieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mehr als 120.000 Jobs sind derzeit beim AMS als unbesetzt gemeldet, laut einer Schätzung des Forschungsinstituts Wifo könnten es aber tatsächlich bis zu dreimal mehr sein, weil nicht alle Stellen via AMS ausgeschrieben werden. Einer der Gründe dafür ist die demografische Trendwende, die sich derzeit vollzieht. In den vergangenen 30 Jahren sei Österreich in einer "günstigen Ausnahmesituation" gewesen, sagt der Wifo-Ökonom Helmut Mahringer. Geburtenstarke Jahrgänge waren gänzlich im Arbeitsmarkt, hinzu kamen zehntausende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den EU-Ländern in Osteuropa, die Jahr für Jahr neu auf Österreichs Jobmarkt strömten.

Doch die Quellen versiegen. Aus Osteuropa kommen weniger Menschen, weil die meisten Auswanderungswilligen schon hier sind. Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Pension. Die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 wird sinken. Ohne Zuwanderung aus der Ukraine wäre das bereits passiert, so dürfte der Rückgang 2023 beginnen. Fast 300.000 Menschen werden in den kommenden 18 Jahren aus dieser Altersgruppe "verschwinden".

Nun gibt es Wege, mehr Menschen für Arbeit zu gewinnen: Bei Älteren lässt sich etwas machen. Bei Arbeitslosen gibt es Potenzial. Aber realistisch betrachtet wird das nicht reichen, um die Lücke zu schließen. Zumal der Bedarf an Arbeitskräften steigen wird, etwa in der Altenpflege, und weil viele junge Menschen nicht mehr Vollzeit arbeiten wollen.

Österreich braucht daher eine vernünftige Zuwanderungsstrategie für den Arbeitsmarkt. Die Regierung sollte sich wie die USA dazu bekennen, dass wir ein Einwanderungsland sind. In der Folge müsste sich der Staat darum bemühen, junge Menschen mit ihren Familien zu uns zu bringen. Aktuell gibt es zwar die Rot-Weiß-Rot-Karte, die Fachkräften den Zuzug ermöglicht. Aber gerade 4000 solcher Karten werden pro Jahr ausgestellt, der Arbeitsmarkt braucht pro Jahr 38.000 zusätzlich Köpfe. Möglich wären Anwerbeaktionen in Asien, Afrika oder Südamerika, um junge arbeitswillige Menschen in gezielten und geordneten Bahnen zu uns zu bringen. Dieser Prozess gehört aktiv gemanagt, um damit den Wohlstand von morgen zu sichern.

2. Arbeitsmarkt II – Jedes Kind über zwei braucht einen Kindergartenplatz

Hort, Krippe, Tagesgruppe oder Kindergarten: Für Kinder unter drei Jahren einen passenden Betreuungsplatz zu bekommen stellt viele Eltern vor große Herausforderungen. Da wären die kurzen Öffnungszeiten, die sich mit dem Job häufig nicht vereinbaren lassen. Und die hohen Kosten, die lediglich in Wien und im Burgenland für ganztägige Kinderbetreuung vom Land übernommen werden. Zu allem Überfluss ist da das Platzproblem, besonders auf dem Land.

Was das mit einer besser funktionierenden Wirtschaft zu tun hat? Enorm viel. Bekommt das Kind keinen Platz, ist für die Eltern der Zugang zum Arbeitsmarkt oder der Wiedereinstieg in den Beruf erschwert. Erhebungen von Eurostat zeigen, dass etwa ein Drittel aller Teilzeitbeschäftigten in Österreich nicht Vollzeit arbeitet, obwohl sie es gern wollen würden – denn sie müssen Kinder betreuen oder Angehörige pflegen. Damit hat Österreich innerhalb der EU den höchsten Wert und ist weit entfernt vom Vorreiter Dänemark, der bei etwa 1,6 Prozent liegt.

Serie: Österreich braucht dringend eine Kurskorrektur. Was müsste geschehen, wer muss aktiv werden und wie? In einer Serie widmet sich DER STANDARD
drängenden Fragen zur Zukunft unseres Landes.

Es bräuchte also einen massiven Ausbau der Kinderbetreuung, besonders im ländlichen Raum. Hätte jedes Kind ab zwei Jahren – oder vielleicht sogar früher – den Anspruch auf einen Kindergartenplatz, wäre vieles gewonnen, in gesellschaftlicher Hinsicht, aber auch in wirtschaftlicher.

Eine Studie der Uni Wien von 2021 zeigt den Effekt vom Angebot an Betreuungseinrichtungen auf die Erwerbsbeteiligung. Das Ergebnis zeigt: Kinderbetreuung wirkt sich deutlich auf die Erwerbstätigkeit von Müttern aus. Diese müssen aufgrund der fehlenden Kapazitäten darauf verzichten, Vollzeit zu arbeiten. Das führt zu niedrigeren Pensionen und Altersarmut. Zugleich schuf und sicherte der Wiener Ausbau der Betreuungsangebote zwischen 2005 und 2016 jedoch über 80.000 Arbeitsplätze – einerseits in der Elementarpädagogik, andererseits bei Müttern. Auch laut Berechnungen des industrienahen Thinktanks Eco Austria würden größeren Kapazitäten in der Kinderbetreuung dazu führen, dass mehr Eltern die Möglichkeit hätten, Vollzeit zu arbeiten. Dies führt zu einem Anstieg des Markteinkommens und der Staatseinnahmen, etwa durch Steuern.

Jedoch würde nicht nur die Wirtschaft vom Ausbau profitieren. Auch die Kinder hätten einen unmittelbaren Nutzen: Wie unzählige Studien belegen, sind deren ersten Bildungsjahre entscheidend für ihr weiteres Leben.

3. Verteilungspolitik – Neue Kompromisse zwischen Arbeit und Kapital

Österreichs Steuerpolitik muss umgekrempelt werden. Zu den Baustellen gehört, dass der Faktor Arbeit zu stark belastet ist, wie Daten der Industriestaatenorganisation OECD zeigen. Vom Geld, das ein Arbeitnehmer einem Unternehmer kostet, landet im OECD-Schnitt ein Drittel beim Staat in Form von Steuern und Sozialabgaben. In Österreich ist es beinahe die Hälfte. Während Arbeit hoch belastet ist, sieht es bei Vermögenssteuern anders aus. So beliefen sich die heimischen Einnahmen aus vermögensbezogenen Abgaben zuletzt auf 0,6 Prozent der Wirtschaftsleistung – in den übrigen Industrieländern ist der Schnitt dreimal höher. Eine pragmatische Lösung wäre es, vermögensbezogene Steuern anzuheben, etwa in Form der Wiedereinführung einer Erbschaftssteuer. Um die Steuerlast insgesamt nicht zu erhöhen, sollte festgelegt werden, dass jeder eingenommene Cent dazu dient, den Faktor Arbeit zu entlasten.

Das wäre ein liberales Projekt: Die hohe Vermögenskonzentration würde etwas aufgebrochen werden. Unternehmen hätten einen Anreiz, den einen oder anderen Bewerber eine Chance zu geben, für den sonst kein Geld da wäre.

Zugleich könnte eine Erbschaftssteuer ein Tor sein, um neue Kompromisse zwischen Arbeit und Kapital auszuloten.

Große Herausforderungen gibt es noch abseits der Steuerpolitik, etwa bei den Pensionen. Aktuell gibt der Staat bereits rund ein Viertel seines Budgets für Pensionen aus, Tendenz leicht steigend. Dieses Geld fehlt an anderer Stelle für Investitionen. Für viele Menschen wäre es locker zumutbar, länger zu arbeiten, die Lebenserwartung ist in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters darf also kein Tabu sein. Wer gemessen an seiner Lebenserwartung länger arbeiten muss, kann natürlich kürzer in Pension sein, verliert also damit Ansprüche. Für einen Top-Verdiener mag das kein grober Einschnitt sein.

Doch viele Menschen in Österreich haben nur eine Art von Vermögen: ihre Pensionsansprüche. Wenn man diese Ansprüche als Vermögen betrachten würde, so wie der Ökonom Christian Keuschnigg das vorschlägt, wäre eine Anhebung des Pensionsalters eine Form der Vermögenssteuer, die eher Ärmere trifft. Um einen Kompromiss zu schaffen, böte sich die Einführung der Erbschaftssteuer an, die eher Reiche belastet. Damit wäre ein gesellschaftlicher Ausgleich möglich.

4. Erneuerbare Energie – Ein nationaler Kraftakt ist vonnöten

Der massive Ausbau erneuerbarer Energien ist höchst notwendig, und das gleich aus mehreren Gründen. Da wäre zunächst der Klimaschutz: Es braucht dringend eine Energieversorgung, die das Weltklima nicht weiter zerstört. Des Weiteren gibt es die geopolitische Komponente: Spätestens seit dem Einfall Russlands in die Ukraine weiß man, wie gefährlich es ist, von jenen – vornehmlich autoritär geführten – Staaten abhängig zu sein, die über Vorkommen fossiler Energien verfügen.

Klimaschutz wie Geopolitik wirken sich stark auf die Wirtschaft aus. Der Erneuerbaren-Ausbau würde Österreichs Wirtschaft konkurrenzfähig halten – angesichts einer Weltwirtschaft, die immer stärker versucht, sich zu dekarboniseren. Zudem würden ökonomische Erschütterungen wie infolge des Ukraine-Kriegs geringer ausfallen als heute.

Die Politik hat das erkannt – zumindest theoretisch. "Die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern ist ein Gebot der Stunde", sagte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im April. Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) fordert "einen nationalen Kraftakt zur Energiewende".

Doch: Er findet nicht statt. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs "wurde kein einziges Bundesgesetz beschlossen, das den Erneuerbaren-Ausbau beschleunigt, obwohl wichtige Gesetzesvorhaben seit vielen Monaten – teilweise sogar Jahren – im Entwurf vorliegen", kritisierte der Dachverband Erneuerbare Energien (EEÖ) Anfang Oktober. Dabei liegt auf der Hand, was zu tun wäre: Ein Klimaschutzgesetz müsste einen verbindlichen Pfad festschreiben, wie sich Emissionen reduzieren müssen. Ein Energieeffizienz gesetz könnte überdies für mehr Einsparungen sorgen. Beides wird regierungsintern überlegt – seit Monate, ohne Fortschritte.

Vor allem die Länder müssten aktiv werden, bleiben aber völlig untätig. Es braucht auf Länderebene reformierte Raumordnungs- und Naturschutzgesetze sowie spezielle Zonen für Erneuerbaren.

In all diesen Bereichen muss man bislang konstatieren: Es geschieht rein gar nichts.

Seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wollen immer mehr aus russischen Gas aussteigen. Wie das funktionieren könnte und was sich dafür ändern müsste.
DER STANDARD

5. Neuerfindung der Industrie – Mit mehr Effizienz weniger Energie verbrauchen und neue Produktideen generieren

Günstige Energie war nie der größte, aber doch ein gewichtiger Puzzlestein im Gesamtbild der unter dem Strich sehr wettbewerbsfähigen österreichischen Industrie. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und der dadurch ausgelösten Preislawine steht dieses Erfolgsmodell auf dem Prüfstand.

Nun gilt zu hinterfragen, ob Geschäftsmodelle, die bei niedrigen Strom- und Gaspreisen passabel funktioniert haben, auch bei deutlich teurerer Energie noch tragfähig sind. Von dem Gedanken, Strom und Gas würden jemals wieder nachhaltig günstig, müssen sich Unternehmen auf europäischem Boden wohl verabschieden. "Günstiger wie zuletzt, aber nie mehr so günstig wie vor Corona oder vor dem Krieg", ist Wolfgang Urbantschitsch, Chef der E-Control, ziemlich sicher.

Eine Lehre daraus ist, dass speziell Unternehmen mit starker Exportorientierung noch mehr auf Effizienz achten und neue Energiequellen auftun müssen. Wer konnte, hat zuletzt kurzfristig auf Öl umgerüstet, um im Fall des Falles lieferfähig zu bleiben. Langfristig können auch im Hinblick auf die Einhaltung der Klimaziele nur Erneuerbare inklusive Wasserstoff das Energieproblem in der Industrie lösen.

Die stark gestiegenen Preise seien jetzt jedenfalls zusätzlich Motivation, auch die letzten Prozente an Einsparmöglichkeit herauszuholen, sagt Michael Peneder vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Der Industrieökonom weist auf eine weitere Option hin, die sich jetzt rentieren könnte: in neue, energiesparende Technologien investieren, dadurch den Verbrauch senken und so Kosten sparen.

An Fördermöglichkeiten sollte es nicht scheitern. "Die gibt es, da passiert viel, auch was den Komplettumstieg auf erneuerbare Energien betrifft", sagt Peneder.

Der Wifo-Experte hält Effizienz bei der Umsetzung neuer Produktionsverfahren und Produktideen für ebenso wichtig wie den sparsamen Umgang mit Energie. Innovation sei der beste Weg, die Wettbewerbsfähigkeit von Europas und Österreichs Industrie unter erschwerten Rahmenbedingungen, mit denen viele Unternehmen wohl länger konfrontiert sind, abzusichern.

Am Ende zählt das industrielle Knowhow, das es permanent weiterzuentwickeln gilt. Und auch, dass es genügend Fachkräfte gibt, die bereit sind, ihr Hirnschmalz dafür zur Verfügung zu stellen. Aber das ist eine andere Geschichte. (Joseph Gepp, Pauline Severin, Günther Strobl, András Szigetvari, 5.11.2022)