Den notorisch auf Krawall gebürsteten Totalkünstler Jonathan Meese (52) möchte man nicht unbedingt zum Mittagstisch laden. Der wirrhaarige Riese erschiene womöglich wirklich: gutgelaunt mit Hakenkreuzbinde, die Kalaschnikow am Schultergürtel wippend.
Meese würde, mit Unmengen von Schaum vor dem Mund, unentwegt an Deutschland appellieren, sein heiß geliebtes, tief verhasstes Vaterland: "Ich will, dass ein Riss durch Deutschland geht!" Oder: "Gebt mir ein Leitbild!". Oder: "Wir müssen den Führer gebührend empfangen!" So reicht es immerhin zu einem Theaterabend in Wien. Obacht: Meese nimmt, wenn sich ihm die Zunge löst, auch Nazi-ähnliche Slogans in den Mund. Immerhin darf man sich als Zuschauer in der Hoffnung wiegen, Meese meine mit dem "Führer" jemand anderen. Oder auch seinesgleichen.
Dieser an Persönlichkeiten wie Christoph Schlingensief oder den Gugginger Buchstabenmaler August Walla erinnernde Lärmerreger wäre auf jeder Feier ein Partyschreck. Doch irgendwann verstünde niemand mehr im Tourette-Gewitter des Lamentierenden, der Merksätze wie Falschmünzen prägt, sein eigenes Wort. Meese weilt dieser Tage wieder zu Gast vor den schütter besetzten Rängen des Wiener Volkstheaters.
Exzess-Dienstleister
Die diesmalige Premiere nennt sich Barrier Reef (Die Französische Revolution ist back). In Wirklichkeit besteht der Titel aus noch viel mehr Buchstaben: Die Reiter der toten Korallen-Rache (Revenge). Was ohnedies egal ist, solange die Lettern vor allem XXL-groß (GROSS!) geschrieben sind.
Im Trockeneisnebel strampelt eine fünfköpfige Gruppe widerspenstiger Exzess-Dienstleister. Und weil diesmal auch die Revolution von 1789 als Mitwirkende eingeladen ist, werden Baguette-Stangen aus der nahen Billa-Filiale mit äußerster Verwegenheit kleingeschnippelt. Auf einem Krankenhaus-Bett schüttelt sich die verboten blonde französische "Marianne" (Lilith Stangenberg) in Krämpfen einer unstillbaren Vorlust: "Baise-moi!" Sie meint es bitterernst.
Ein unmanierlicher "Volksschauspieler" (Bernhard Schütz) taumelt unter der Bedeckung einer Bärenfellmütze durch das Chaos: ein Turm, wie die Angehörigen von Napoleons Alter Garde ihn trugen. Die Glieder der Beteiligten zucken ohne Unterlass, Marianne entblößt zu ABBA die flache Brust.
In zwei Telefonzellen bimmelt es: Der Weltgeist höchstpersönlich ist am Apparat! Meese, der Kunstpriester, kräht so laut, wie der Abend lang ist, höchstpersönlich seine kruden Thesen: "Nur unfreie Kommunisten gehen zu freien Wahlen!" Oder, wirklich provokant: "Ich kann trinken, ohne zu strullern!" Auf einem Fernsehbildschirm ist die blutjunge Désirée Nosbusch beim Filetieren eines Mannsbildes zu sehen. Man ist für Ablenkung dankbar. Am andern Bildschirm läuft Zardoz mit Sean Connery.
Amtliche Priester
Ein Gespenst soll an diesem gut dreistündigen Besuch in Dröhnland gebannt werden. Es besteht aus den beiden Teilen "Deut" und "Schland". Man muss sich um dieses Land schon ob seiner amtlichen Kunst-Priester Sorgen machen: "Morgen ist der Führer da!" Nur Meese freut sich. Doch dann kreißen die Berge, es donnern Rammstein, und etwas unendlich Zartes wird geboren: Mama Meese, genauer gesagt, Jonathans Mutter mit Namen Brigitte Renate Meese.
Die Greisin erscheint wie aus dem Nichts und nimmt mit bescheidener Grazie unter diesen Rasenden Platz. Am Anfang hatte sie noch eine Zusammenfassung von Vladimir Nabokovs Lolita via Video vorgelesen. So feingliedrig, wie der Roman von seinem Erfinder nun einmal erdacht ist.
Wenn drei Stunden Meese-Theater in die Apotheose dieser "Führerin" gipfeln, dann muss es den Aufwand wert gewesen sein. Der Sohnemann strahlt: "Du bist die Elite!", und: "Du bist stärker als Napoleon! Tanz den Adolf Hitler!" Mutter Meese reagiert ein bisschen indigniert. Sie möchte lieber gehen. Der Zuschauer empfindet unter dem massiven Eindruck von Meeses Zudringlichkeiten ähnlich. Und doch: Nur mit Belastungsprogrammen wie diesem lässt sich dem Theater die ihm eigene Behaglichkeit austreiben. Eine Empfehlung. Mit Warnhinweis. (Ronald Pohl, 6.11.2022)