Die beiden Städte in Pennsylvania sind 420 Kilometer voneinander entfernt – nichts für amerikanische Verhältnisse. Doch am Samstagabend lagen sie auf zwei Planeten. "Die Demokratie steht buchstäblich auf dem Wahlzettel", warnte der 46. US-Präsident, Joe Biden, in Philadelphia vor einem Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen. An seiner Seite: Barack Obama, der 44. Präsident. "Sie wollen euer Land zerstören", tönte Donald Trump, Präsident Nummer 45, in Latrobe gegen die Demokraten.

Comeback-Hoffnung oder Schreckgespenst? Bei den Midterm-Wahlen geht es letztlich auch um die Person Donald Trump.
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Das asynchrone Nebeneinander kurz vor den Midterms am Dienstag illustriert nicht nur die extreme Polarisierung der US-Gesellschaft. Die parallelen Auftritte vermitteln auch einen Vorgeschmack auf das Szenario einer immer wahrscheinlicher werdenden erneuten Kandidatur Trumps und einer Neuauflage des Präsidentschaftsrennens gegen Biden im Jahr 2024.

Weichenstellung

In mehrfacher Hinsicht werden dafür am Dienstag die Weichen gestellt: Es geht um die Handlungsfähigkeit von Biden in seinen verbleibenden zwei Amtsjahren, die ordnungsgemäße Durchführung der durch gewaltsame Störungen und unzählige Anfechtungen bedrohten Urnengänge und letztlich um die Frage, ob die Wahlen 2024 zugunsten von Trump manipuliert werden könnten. "Die Zwischenwahlen sind kein Witz", mahnte Obama. "Wenn die Demokratie stirbt, werden Menschen getroffen. Es hat reale Konsequenzen."

Formal wird bei den Midterms über die Neubesetzung des Repräsentantenhauses, eines Drittels des Senats und von zwei Dritteln der Gouverneursposten abgestimmt. Doch über allem schwebt die Frage, welche Macht rechte Verschwörungsideologen, Nationalisten und Demokratieverächter künftig haben. Die Republikaner haben laut "Washington Post" rund 300 Kandidaten aufgestellt, die den Ausgang der Wahl 2020 negieren. Einige von ihnen bewerben sich in den Bundesstaaten für Innenministerposten und wären dann für die Durchführung der nächsten Wahlen zuständig.

Der frühere US-Präsident Donald Trump veranstaltete in Miami eine Kundgebung zur Unterstützung republikanischer Kandidaten bei den Midterm-Wahlen. "Wenn Sie Sicherheit für Ihre Familie und Sicherheit für Ihre Gemeinde wollen, müssen Sie jeden Demokraten aus dem Amt wählen und für die Republikaner stimmen", so der ehemalige Präsident.
DER STANDARD

Erster Lackmustest

Schon der Urnengang am Dienstag ist der erste Lackmustest. In Arizona wurden bereits bewaffnete "Wahlbeobachter" gesichtet. "Wir sind auf alles vorbereitet", sagte Bill Gates, der oberste Wahlaufseher in Maricopa County, das die Millionenmetropole Phoenix einschließt, am Donnerstag bei einem ungewöhnlichen gemeinsamen Auftritt mit seinen Kollegen aus Georgia und Michigan. "Wir erwarten größere Störungen in Huntington Place", so Jocelyn Benson, die Innenministerin von Michigan.

Auch die Auszählung und Erfassung der Ergebnisse könnte von radikalen Rechten gestört werden. Weil die Briefwahlstimmen in vielen Bundesstaaten erst später ausgezählt werden dürfen und extrem knappe Ergebnisse erwartet werden, könnte es vielerorts Tage oder sogar Wochen bis zum Endergebnis dauern. Das droht die öffentliche Stimmung weiter anzuheizen und Verschwörungslügen zu befeuern.

Gleichzeitig wird das Trump-Lager die Auszählung anfechten. Grundsätzlich sei das legitim, sagt Benson: "Aber hier ist es eine klare PR-Strategie, um Zeit zu gewinnen, Zweifel zu säen und die Wahl zu untergraben."

Harte Zeiten für Biden

Wenn das Ergebnis dann irgendwann feststehen wird, drohen den Demokraten harte Zeiten. Die meisten Beobachter erwarten, dass sie ihre hauchdünne Mehrheit im Repräsentantenhaus verlieren. Biden hätte dann ab Jänner 2023 keine parlamentarische Mehrheit und könnte nur mit Dekreten regieren.

Zudem dürften sich innerhalb der republikanischen Fraktion die Machtverhältnisse massiv zugunsten des Trump-Lagers verschieben. Die Rechtsextreme Marjorie Taylor Greene hat schon eindrücklich ihren Anspruch auf eine führende Rolle angemeldet. Sie und ihre Kollegen dürften Untersuchungsausschüsse – etwa über die Geschäfte des ehemals drogensüchtigen Biden-Sohns Hunter – einsetzen und dem Präsidenten mit einem Amtsenthebungsverfahren das Leben schwermachen. Es droht eine zweijährige Blockadepolitik.

Kevin McCarthy, der mutmaßliche künftige Mehrheitsführer der Republikaner, hat schon erklärt, dass das Parlament auch die Ukrainepolitik des Präsidenten nicht mehr vorbehaltlos unterstützen werde.

Letztes Aufgebot

Noch radikaler wären die Konsequenzen, falls auch die Mehrheit im Senat verlorenginge, was die Demokraten unbedingt verhindern wollen. Dann nämlich könnte Biden keine Personalentscheidungen etwa bei der Besetzung von Botschafter- oder Richterposten mehr durchsetzen, und der Kongress hätte die Mehrheiten, um extreme Gesetze wie ein komplettes nationales Abtreibungsverbot zu beschließen. Bidens letztes scharfes Schwert wäre dann sein Vetorecht. Der mächtigste Mann der Welt befände sich in der Defensive. Das käme seinem Vorgänger Trump gerade recht.

Seit Monaten spielt dieser mit Andeutungen über eine erneute Kandidatur. Er werde es "sehr, sehr, sehr wahrscheinlich" machen, sagte er am vergangenen Donnerstag. Nicht nur der extreme Narzissmus des 76-Jährigen spricht für diese Variante. Der Ex-Präsident könnte sich durch einen solchen Schritt auch gegen seine zahlreichen juristischen Probleme zu immunisieren versuchen. Schon am Montag der kommenden Woche werde Trump seinen Hut offiziell in den Ring werfen, wird in Washington gemunkelt.

Trump'sche Ego-Show

Offenbar will der Ex-Präsident den Schwung einer möglichen roten, also republikanischen, Welle bei den Midterms für sich nutzen. Nicht die gesamte Partei dürfte freilich über das Timing von Trumps Ego-Show glücklich sein. In Georgia droht nämlich im Dezember eine Stichwahl der Senatskandidaten; Trumps Comeback-Pläne könnten dort ungewollt die linksliberalen Wähler mobilisieren.

Auch diese listige Ironie der Geschichte wäre eine Wiederholung: Vor zwei Jahren hatte genau dieser Effekt dem Demokraten Raphael Warnock in Georgia zum unverhofften Sieg und Joe Biden zur Senatsmehrheit verholfen. (Karl Doemens, 7.11.2022)