Giorgia Meloni bezeichnet private Retter als "Piraten".

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Die Lage auf der Humanity 1 war unhaltbar geworden: Eine Woche lang mussten insgesamt 179 gerettete Bootsflüchtlinge, darunter mehr als hundert unbegleitete Minderjährige, auf dem deutschen NGO-Schiff ausharren, bevor der Crew von den italienischen Behörden in der Nacht auf Sonntag die Erlaubnis erteilt wurde, den Hafen von Catania anzulaufen und den größten Teil der Migranten an Land zu bringen: in erster Linie Frauen, Kinder und Kranke.

Noch an Bord befanden sich am Sonntagnachmittag laut italienischen Medien 35 männliche Flüchtlinge, denen die Regierung weiterhin keine Erlaubnis erteilte, das Schiff zu verlassen. Ein weiteres NGO-Schiff mit über 500 Flüchtlingen an Bord – die unter norwegischer Flagge fahrende Geo Barents – traf am Nachmittag ebenfalls in Catania ein. 357 Menschen – unter ihnen vorwiegend Frauen und Kinder – durften dann am Sonntagabend an Land. An Bord blieben 215 Personen.

Weiter auf eine Landung warten unterdessen noch zwei weitere Rettungsschiffe: das deutsche Rettungsschiff "Rise Above" mit 90 Personen an Bord und die norwegische "Ocean Viking" mit 234 im Mittelmeer geretteten Personen. Sie befinden sich beide unweit von Sizilien. Sie haben bisher keine Landegenehmigung erhalten.

Die Entscheidung von Innenminister Matteo Piantedosi, ausländischen NGO-Schiffen das Einlaufen zu verwehren, war bereits einen Tag nach der Vereidigung der neuen, ultrarechten Regierung von Giorgia Meloni gefallen – und hatte Erinnerungen an die "Politik der geschlossenen Häfen" von Ex-Innenministers Matteo Salvini (2018–2019) wachgerufen.

Erinnerungen an Salvini

Was dabei meist vergessen wird: Seit dem Amtsantritt vor zwei Wochen hat Italien bereits über 9000 Migranten aufgenommen, die es mit ihren Schiffen selber nach Italien geschafft haben oder die von der italienischen Küstenwache gerettet worden sind – durchschnittlich rund 650 pro Tag. So gesehen, kann von geschlossenen Häfen keine Rede sein: Dies betrifft nur private, ausländische Rettungsschiffe.

Italien werde auch von NGO-Schiffen Personen aufnehmen, für die es aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar wäre, an Deck zu bleiben, betonte Piantedosi am Sonntag. "Wir werden aber nicht von unserer Haltung abrücken, dass die Flüchtlinge von dem Staat aufgenommen werden müssen, unter dessen Flagge das Schiff fährt, von dem sie gerettet wurden." Im Fall der Humanity 1 also von Deutschland, im Fall der Geo Barents von Norwegen. Bisher haben sich aber Berlin und Oslo diesbezüglich weitgehend taub gestellt – obwohl es sich dabei nur um einen kleinen Teil handelt: Von den über 80.000 Bootsflüchtlingen, die heuer in Italien gelandet sind, kamen nur 16 Prozent auf Schiffen privater Retter an. Die übrigen 84 Prozent hat Italien ohne Aufhebens aufgenommen.

Auch Draghi ließ warten

Auch die Bezeichnung "Rückkehr" zur Politik der geschlossenen Häfen ist unzutreffend: Denn auch unter Premier Mario Draghi mussten private, ausländische Seenotretter mitunter tage- bzw. wochenlang auf die Zuweisung eines Hafens warten. Draghi hatte schon Anfang Juli die Kapazität bei der Aufnahme von Migranten im eigenen Land als erreicht angesehen: "Auch wir haben Limits, und jetzt sind wir da angekommen", erklärte er – und zu diesem Zeitpunkt waren seit Jahresbeginn erst knapp 30'000 Flüchtlinge in Italien angekommen. Der Unterschied zwischen Draghi und seiner Nachfolgerin besteht aber darin, dass Meloni die Flüchtlingsproblematik propagandistisch auszuschlachten versucht und NGO-Schiffe, die jährlich Tausende vor dem Ertrinken retten, etwa als "Piratenschiffe" bezeichnet.

Der Streit dreht sich letztlich um einander widersprechende Bestimmungen des See- und Asylrechts: Seenotretter verweisen auf die Regel, wonach Schiffbrüchige in den nächsten Hafen gebracht werden müssen. Rom beruft sich auf das UN-Seerechtsabkommen, wonach ein Schiff als erweitertes Territorium des Staates gilt, unter dessen Flagge es fährt – und laut Dublin-Vertrag ist dasjenige Land für die Aufnahme zuständig, wo ein Asylsuchender erstmals europäisches Territorium betritt. Bei NGO-Schiffen also der Flaggenstaat.

Welche der beiden Interpretationen Vorrang hat, ist umstritten. Und deshalb hat Italiens Außenminister Antonio Tajani am Wochenende gefordert, dass sich Brüssel koordiniert um eine solidarische Lösung kümmere. Diese Forderung stellen freilich alle italienischen Regierungen, ob linke oder rechte, seit Jahren vergeblich. (Dominik Straub aus Rom, red, 7.11.2022)