Anreiz oder Schikane? Die oft als zu großzügig angeprangerte Wiener Mindestsicherung birgt finanzielle Tücken.

Foto: Maria von Usslar

Frau M. tut sich schwerer als andere Menschen, komplexere Sachverhalte zu verstehen. Wegen einer Lernbehinderung steht ihr für Behördenumgang oder Geldfragen eine Erwachsenvertreterin zur Seite. Als arbeitsfähig ist M. dennoch eingestuft. Mit Erfolg hat sie eine integrative Lehre zur Konditorin absolviert.

"Sie macht wundervolle Torten mit Marzipandekor", erzählt die Erwachsenenvertreterin, Martina Kargl, die ihre Klientin als hochmotiviert beschreibt. Doch obwohl M. alles in ihrer Macht Stehende getan habe, um dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, habe es eine böse Überraschung gegeben: Die junge Frau bekam die Mindestsicherung nicht in vollem Ausmaß gewährt.

Passiert ist dies – ausgerechnet – in Wien. Das oft als zu großzügig angeprangerte Sozialhilfesystem in der Hauptstadt birgt einen besonderen Passus, der als Anreiz für Ausbildung und Arbeitssuche funktionieren soll. Unter 25-Jährige erhalten nur dann den vollen Betrag, der für Alleinstehende knapp 978 Euro zwölfmal im Jahr ausmacht, wenn sie in Ausbildung, einer Schulung des Arbeitsmarktservices (AMS) oder in (gering entlohnter) Beschäftigung stehen. Alle anderen bekommen um 25 Prozent weniger.

Diese Regelung sei M. auf den Kopf gefallen. Trotz allen Willens habe sich zwischen Ausbildungsmaßnahmen eine zeitliche Lücke aufgetan – mit prompter Leistungskürzung als Konsequenz. Einen Job habe allerdings weder das AMS noch die Stadt Wien angeboten.

Höchstrichter entscheiden

Nun startet ein Versuch, den Mechanismus auszuhebeln. Der Erwachsenenschutzverein Vertretungs-Netz hat beim Verfassungsgerichtshof eine Beschwerde gegen diese "diskriminierende" Bestimmung eingebracht. Beeinträchtigte Menschen erhielten viel seltener passende Angebote des AMS für Kurse oder Jobs, so die Argumentation: Man könne doch niemanden ernsthaft für schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt bestrafen.

Als Beleg zitiert das Vertretungs-Netz die AMS-Statistik: Demnach sind derzeit 24 Prozent aller Arbeitssuchenden ohne gesundheitliche Einschränkungen in einer Schulung. Bei Menschen mit Handicap beträgt der Anteil nur 13 Prozent.

Das Wiener AMS will diese Zahlen allerdings so nicht stehen lassen. Man dürfe von den Gesamtzahlen nicht automatisch auf die Jungen schließen, sagt Abteilungsleiter Martin Erhard-Kainz. Für unter 25-Jährige gebe es ein besonders breites Angebot: Mit gut 47 Prozent liege die Schulungsquote von Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen sogar ein Stück höher, als es insgesamt der Fall sei.

Trotzdem komme es vor, dass Klienten zwischen der einen und der anderen Schulung eine Zeitlang warten müssten, bestätigt Erhard-Kainz. Gerade, wenn es um speziellere Themen gehe, sei es nicht machbar, jeden Monat einen neuen Kurs starten zu lassen: "Die Pflegeausbildung etwa beginnt zweimal im Jahr." Dass Betroffene dann Probleme mit der Mindestsicherung bekommen, liege nicht in der Verantwortung des AMS: Wer das nicht wolle, müsse das Gesetz ändern.

Tritt in den Allerwertesten

Daran denkt die rot dominierte Stadtregierung allerdings nicht. Das Anreizsystem habe sich bewährt, sagt ein Sprecher von Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) und verweist auf schlechte Erfahrungen aus der Zeit, als noch eine viermonatige "Orientierungsphase" gewährt wurde. Meist sei diese Atempause, in der es den vollen Betrag der Mindestsicherung gab, ungenützt verstrichen: Einen Tritt in den Allerwertesten habe es schlicht gebraucht.

Dieser bestehe aber nicht nur aus finanziellem Druck, sondern auch aus dem unter dem Label "U25" laufenden Case-Management, bei dem Stadt und AMS besonders individuelle Betreuung böten: 30.000 Bezieher seien seit dessen Einführung in dauerhafte Jobs vermittelt worden.

Derzeit muss sich etwa ein Drittel der 10.500 Bezieher zwischen 19 und 24 Jahren mit der eingeschränkten Mindestsicherung begnügen. Nur in Einzelfällen sei das wohl unverschuldet der Fall, glaubt man im Büro Hacker. Schließlich planten Stadt und AMS die Kurse in den Programmen für die Klienten möglichst "überlappend", damit keine Wartezeiten entstünden. Die Mindestbedingung von nur einem Tag "Maßnahme" im Monat, um die volle Leistung zu beziehen, sei "zumutbar".

Die Kritiker sehen das anders – nicht allein wegen der 250 Bezieherinnen und Bezieher mit Behinderung, die Aufhänger für die Verfassungsbeschwerde sind. Vom Ende des Passus würden auch viele andere Leidtragende profitieren, heißt es in NGO-Kreisen: etwa Asylberechtigte, die auf den passenden Deutschkurs warten. (Gerald John, 7.11.2022)