Im Gastblog zeigt Alexander Fried einige Standorte, an denen Wiener Synagogen im Zuge der Novemberpogrome zerstört wurden.

Mit bis zu 200.000 Mitgliedern in der Zwischenkriegszeit war die jüdische Gemeinde ein prägender Teil der Wiener Gesellschaft, was sich auch durch die zahlreichen Synagogen bemerkbar machte. Bis 1938 gab es in Wien sechs Synagogen, 18 Vereinssynagogen und 78 Bethäuser. Der Bezirk mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil war die zwischen Donau und Donaukanal gelegene Leopoldstadt, die deshalb auch den Spitznamen "Mazzesinsel" bekam. (Das Mazzes-Brot wird traditionellerweise zum jüdischen Pessachfest gegessen.)

1923 ÖNB/onb.digital; 2022 Alexander Fried
Die "Mazzesinsel" in den 1920er-Jahren: Sechs jüdische Männer auf dem Mathildenplatz (heute Gaußplatz).

Einen großen Zuwachs erfuhr die Gemeinde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der viele Kriegsflüchtlinge aus den östlichen Teilen der Monarchie brachte. Der Antisemitismus stieg, insbesondere im zweiten Bezirk. Hier formierten sich bereits 1927 erste nationalsozialistische Gruppierungen.

1938 ÖNB/Hilscher (onb.digital); 2022 Alexander Fried
März 1938: Juden werden gezwungen, jüdische Geschäfte zu beschriften. Die Aufnahme zeigt einen orthodoxen Juden in der Heinestraße mit Farbkübel, der von der Meute verfolgt wird.

Mit dem Anschluss an das Deutsche Reich wurde die Situation für die Jüdinnen und Juden immer prekärer. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden sämtliche Synagogen geplündert und in Brand gesteckt. An die Feuerwehren erging der Befehl, nur die umliegenden Gebäude zu schützen und die Synagogen abbrennen zu lassen. Einzig der Stadttempel in der Seitenstettengasse entging der vollständigen Zerstörung. Die Nationalsozialisten hatten die Sorge, dass in den engen Gassen der Wiener Innenstadt ein Feuer auf benachbarte Wohngebäude überspringen könnte, und sahen von einer Brandstiftung ab. Der Stadttempel ist somit heute die einzige erhaltene historische Synagoge Wiens.

1938 ÖNB (www.onb.digital); 2018 Alexander Fried
Antisemitismus in Wien 1938: Ein Mann muss mit einem Schild "Dieses arme Schwein kauft bei Juden ein" die Mariahilfer Straße entlanggehen. Im Hintergrund prangt am Hotel Kummer in riesigen Lettern der Spruch "Ein Volk, ein Reich, ein Führer".

Nach und nach wurden den Jüdinnen und Juden in der NS-Herrschaft weitere Freiheitsrechte genommen, ehe es zur systematischen Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung kam. Ungefähr 65.000 österreichische Jüdinnen und Juden wurden im NS-Regime ermordet.

In der Nachkriegszeit wurden die brachliegenden Grundstücke an die Israelitische Kultusgemeinde restituiert. Aufgrund der Ermordung und der Flucht des Großteils der jüdischen Bevölkerung zählte die jüdische Gemeinde in Wien nur noch 25.000 Mitglieder, von denen in den Folgejahren viele weitere emigrierten. Der Bedarf an einer Vielzahl an Synagogen wie vor dem Krieg war nicht mehr gegeben, weshalb viele Grundstücke von der Israelitischen Kultusgemeinde an die Gemeinde Wien oder an Privatpersonen weiterverkauft wurden.

Seit dem Gedenkjahr 2018 erinnern an 25 Standorten Lichtinstallationen in der Form eines Davidsterns des Künstlers Lukas Kaufmann an die zerstörten Synagogen und Bethäusern. Dieses Gedenkprojekt wurde vom Jüdischen Museum Wien in Zusammenarbeit mit der Universität für angewandte Kunst initiiert und trägt den Namen OT (hebräisch für Symbol). Sämtliche nicht mehr existierende Synagogen kann man sich virtuell im Jüdischen Museum in der Dorotheergasse ansehen.

Stadttempel

Adresse: 1. Bezirk, Seitenstettengasse 4

1942 ÖNB (www.onb.digital); 2022 Alexander Fried

Der Stadttempel ist die einzige noch bestehende historische Synagoge Wiens. Da es im frühen 19. Jahrhundert nicht gestattet war, nichtkatholische Gotteshäuser zu errichten, die als solche zu erkennen sind, verbirgt sie sich hinter einem Zinshaus. Der Lage in den engen Gassen der Innenstadt ist es zu verdanken, dass sie in den Novemberpogromen nicht in Brand gesetzt wurde.

Leopoldstädter Tempel

Adresse: 2. Bezirk, Tempelgasse 3

circa 1900 Sperlings Postkartenverlag, Wien-Museum Inv.-Nr. 179571; 2020 Alexander Fried

Mit der 1852 erfolgten Anerkennung der jüdischen Gemeinde kam es zu einem vermehrten Zuzug von Jüdinnen und Juden aus anderen Teilen der Donaumonarchie. Die Kapazität des Stadttempels reichte nicht mehr, weshalb Kaiser Franz Joseph I. den Bau einer weiteren Synagoge gestattete. Der Leopoldstädter Tempel wurde zwischen 1854 und 1858 im maurischen Stil nach Plänen von Ludwig Förster errichtet und war mit 2.000 Sitz- und weiteren 1.500 Stehplätzen die größte Synagoge Wiens. Der hier umgesetzte orientalische Stil war architektonisches Vorbild für zahlreiche andere Synagogen Europas und sollte an die Herkunft der Juden im Nahen Osten erinnern.

Von der ehemaligen Bausubstanz ist noch einer der beiden Seitentrakte erhalten, der die Theologische Lehranstalt beheimatete. Heute ist dort das sozialmedizinische Zentrum Esra untergebracht. An der Stelle des nicht mehr existierenden südlichen Trakts wurde der Desider-Friedmann-Hof errichtet. Die vier weißen Säulen symbolisieren die Fassade des ehemaligen Tempels.

Türkischer Tempel

Adresse: 2. Bezirk, Zirkusgasse 22

1910 ÖNB (www.onb.digital); 2015 Alexander Fried

Der 1885 bis 1887 erbaute Türkische Tempel in der Zirkusgasse wurde ebenfalls im maurischen Stil errichtet. Er war die Synagoge der sephardisch-türkischen Juden.

Die Sepharden wurden zwischen 1492 und 1513 von der Iberischen Halbinsel vertrieben und fanden hauptsächlich im Osmanischen Reich und in Nordafrika ein neues Zuhause. Ihre Kultur unterscheidet sich von der der Aschkenasen, die das mittel- und osteuropäische Judentum prägten. Ab 1736 gab es schließlich auch eine sephardische Gemeinde in Wien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Grundstück an die Israelitische Kultusgemeinde restituiert, die es an die Gemeinde Wien verkaufte, die wiederum 1985 einen Gemeindebau darauf errichtete.

Jubiläumstempel

Adresse; 5. Bezirk, Siebenbrunnengasse 1a

circa 1910 P. Leclerc (Verlag), Wien-Museum Inv.-Nr. 58891/7191910 (https://sammlung.wienmuseum.at/en/object/117506/); 2019 Alexander Fried

Der Jubiläumstempel in der Siebenbrunnengasse wurde anlässlich des 60-Jahr-Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs I. erbaut und 1909 eröffnet. Er bot Platz für 476 Gläubige. Charakteristisch für die von Jakob Gärtner entworfene Synagoge waren die beiden zwiebelförmigen Türme an der Front zur Siebenbrunnengasse.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Grundstück restituiert und in weiterer Folge an die Österreichische Jungarbeiterbewegung Wien verkauft. An dieser Adresse steht heute ein Wohnbau, an der Kreuzung zur Nikolsdorfer Gasse wurde eine Gedenktafel angebracht.

Vereinssynagoge Müllnergasse

Adresse: 9. Bezirk, Müllnergasse 21

circa 1900, Sperlings Postkartenverlag/Wien-Museum Inv.-Nr. 179576 (https://sammlung.wienmuseum.at/en/object/347971/); 2020 Alexander Fried

Die Vereinssynagoge in der Müllnergasse wurde in den Jahren 1888/89 nach Plänen des Architekten Max Fleischer erbaut. Da der Thoraschrein in Synagogen immer nach Osten in Richtung Jerusalem ausgerichtet ist und sich somit direkt hinter der Fassade zur Müllnergasse befand, betrat man die Synagoge über die Grünentorgasse. In der Müllnergasse gab es nur zwei kleinere Seiteneingänge. Architekt der Synagoge war Max Fleischer, der neben diesem auch einige weitere Tempel in der österreichisch-ungarischen Monarchie entworfen hat.

Humboldttempel

Adresse: 10. Bezirk, Humboldtgasse 27

1900 ÖNB (www.onb.digital); 2019 Alexander Fried

Das Zentrum des Favoritner Judentums befand sich in der Humboldtgasse. Der Israelitische Tempel- und Turnverein Favoritens erwarb 1893 mithilfe von Spenden- und Darlehensgeldern ein Grundstück, auf dem die Synagoge errichtet wurde. Sie bot Platz für 428 Männer und 227 Frauen.

Auch dieses Grundstück wurde restituiert und in weiterer Folge verkauft. An die Synagoge erinnert heute eine Gedenkstätte auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Humboldtplatz.

Hietzinger Synagoge

Adresse: 13., Eitelbergergasse 22

1930 ÖNB (www.onb.digital); 2020 Alexander Fried

Die 1928/29 errichtete Synagoge war die einzige in der Zwischenkriegszeit errichtete freistehende Synagoge und war das geistige Zentrum des jüdischen Lebens im 13. Bezirk. Sie ersetzte in dieser Funktion den Betraum in der Penzinger Straße 132 (damals noch Teil von Hietzing), der Platz für 132 Personen bot und kapazitätsmäßig für die Hietzinger Gemeinde nicht mehr ausreichte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Grundstück an die Israelitische Kultusgemeinde restituiert, die das Grundstück wiederum an eine Baugesellschaft veräußerte.

Ottakringer Tempel

Adresse: 16. Bezirk, Hubergasse 8

circa 1900 Sperlings Postkartenverlag, Wien-Museum, Inv.-Nr. 179580; 2022 Alexander Fried

Ottakring hatte seine Synagoge dem ehemaligen Bürgermeister Ignaz von Kuffner zu verdanken. Der aus einer mährisch-jüdischen Familie stammende Unternehmer erwarb gemeinsam mit seinem Cousin Jakob die wirtschaftlich angeschlagene Plank'sche Brauerei und baute sie zu einem Großbetrieb aus (der heutigen Ottakringer Brauerei). Dank seines sozialen Gewissens waren die Arbeitsbedingungen deutlich besser als bei der Konkurrenz.

Mit seinem erwirtschafteten Vermögen unterstützte er die Gemeinde Ottakring und wurde 1869 Bürgermeister von Ottakring. In seine Amtszeit fällt auch der Bau des Ottakringer Tempels (1885/86), dessen Grundstück er aus seinem Privatvermögen gespendet hat.

Synagoge Atzgersdorf

Adresse: 23. Bezirk, Dirmhirngasse 112

circa 1900 Sperlings Postkartenverlag/Archiv Jüdisches Museum Wien beziehungsweise Bezirksmuseum Liesing; 2020 Alexander Fried

Die Synagoge in der damals noch eigenständigen Gemeinde Atzgersdorf wurde im Jahr 1900 eröffnet. Da sie sich in unmittelbarer Nähe zum ebenfalls eigenständigen Liesing befand, war sie für beide Ortschaften von Bedeutung. 1922 erfolgte ein Umbau, bei dem auch die Fenster verbaut wurden und ein Zubau errichtet wurde. Mit der Eingemeindung Liesings und Atzgersdorfs in die Stadt Wien im Oktober 1938 wurde der Tempel eine der Wiener Synagogen, ehe er im November darauf zerstört wurde. (Alexander Fried, 9.11.2022)