Ein Arzt und eine Pflegerin kämpfen um das Leben eines Covid-19-Patienten: Seit Ausbruch der Pandemie starben in Österreich um rund 19.000 Menschen mehr, als in "normalen" Jahren zu erwarten gewesen wäre.

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Die Kurve zeigt die Wucht, mit der das Virus über das Land hereinbrach. Immer wieder ließen Corona-Wellen die Sterbezahlen in die Höhe schnellen, besonders dramatisch in den Herbstmonaten 2020 und 2021. Insgesamt sind seit Beginn der Pandemie, so hat die Wiener Landesstatistik berechnet, österreichweit um rund 19.000 Menschen mehr gestorben, als in "normalen" Jahren zu erwarten gewesen wäre.

Auch in den letzten Wochen gab es einen Ausschlag nach oben. Das Wiener Mortalitätsmonitoring, das auf Daten der Statistik Austria basiert, weist für den Herbst eine markante Übersterblichkeit im Vergleich zum Schnitt der Jahre 2015 bis 2019 aus – diese geht ausschließlich auf das Konto von über 65-Jährigen. Und doch wiederholt sich die Geschichte nicht: Denn diesmal ist der Todeszoll nur zum geringeren Teil – etwa zu einem Drittel – mit Covid-Opfern zu erklären.

Warum sterben dann übermäßig viele Menschen? Für die endgültige Klärung braucht es Geduld, zumal die Statistik Austria die in den Totenscheinen genannten Ursachen erst im neuen Jahr komplett auswerten kann – so mancher Beleg wird immer noch handschriftlich statt digital ausgestellt. Mit Hypothesen kann die Fachwelt aber aufwarten.

Verschleppte Sterbefälle

Die Wiener Statistiker bieten gleich mehrere an. Eine davon geht, wie Sprecher Franz Trautinger erläutert, von einem Verschleppungseffekt aus: In gewöhnlichen Zeiten sterben ältere, gesundheitlich angeschlagene Menschen vermehrt in den winterlichen Grippewellen. Weil diese in den ersten beiden Covid-Jahren ausgefallen sind, verteilten sich diese quasi unvermeidbaren Todesfälle nun anders aufs Jahr.

Auszuschließen ist hingegen, dass bereits die für diesen Winter erwartete Influenzawelle so viele Opfer dahingerafft hat: Weder das Monitoring der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch die nationale Gesundheitsagentur Ages sehen Anzeichen dafür, dass die Grippe bereits um sich gegriffen haben könnte.

Fatale Spätfolgen

In die Kategorie mögliche Spätfolgen der Pandemiepolitik fällt auch eine andere Erklärung, die nicht nur Trautinger und seine Kollegen anbieten. Demnach könnten ausgefallene Arzt- und Spitalsbesuche "Kollateralschäden" ausgelöst haben: Krankenhäuser schoben nicht unmittelbar lebensnotwendige Operationen und andere Untersuchungen auf – sei es aus Vorsicht oder wegen Überlastung während der Covid-Wellen. Viele Menschen verzichteten aus Angst vor Ansteckung auf Vorsorgeuntersuchungen und meiden mitunter bis heute Warteräume. Überdies hat der Corona-Stress das ohnehin schon knapp bemessene medizinische Personal ausgelaugt.

Primar Christoph Hörmann kann sich allerdings nur mit einem Teil der Vermutungen anfreunden. Dass sich verabsäumte Prävention nun rächen könnte, leuchtet dem Leiter der Intensivmedizin in der Landesklinik St. Pölten ein – der These von der schlechteren Versorgung der Patienten widerspricht er hingegen. Auch am Höhepunkt der Pandemie sei es letztlich stets gelungen, alle lebensverlängernden Behandlungen zu garantieren, sagt Hörmann. Auch der Personalmangel habe daran nichts geändert: "Die Akutmedizin ist das Allerletzte, was im Ernstfall nicht mehr funktioniert."

Übersehene Todesfälle

Eher glaubt Hörmann, dass hinter den überzähligen Toten der letzten Wochen doch wieder das im Herbst stärker zirkulierende Coronavirus stecken könnte. Schwierig sei die Bewertung, an welcher Ursache ein älterer Mensch mit mehreren Leiden letztlich verstorben ist: Wenn ein 90-Jähriger etwa wegen Herzschwäche im Spital landet, dort aber auch eine Covid-Infektion festgestellt wird – handelt es sich dann um ein Corona-Opfer oder nicht?

Da könne es schon sein, sagt Hörmann, dass Menschen nicht mitgezählt werden, obwohl das Virus letztlich den Ausschlag gegeben hat. Schon bisher lag der Verdacht nahe, dass die laufenden, von der Ages ausgewiesenen Todeszahlen die Situation unterschätzen: Schließlich zählte die Statistik Austria im Vorjahr nachträglich mehr Sterbefälle.

Es sei denkbar, dass Covid-Tote heute lückenhaft registriert würden, sagt auch der Statistiker Trautinger. Eine andere Erklärung könnte darin liegen, dass das angewandte statistische Modell zu ungenau sein könnte.

Europaweites Phänomen

Das Rätseln bleibt nicht auf Österreich beschränkt. Blick in ein Nachbarland: Die Übersterblichkeit bei den über 65-Jährigen seit Ende September überrasche ihn sehr, zitiert der "Tagesanzeiger" den Epidemiologen Martin Röösli vom Schweizer Tropen- und Public-Health-Institut in Basel. Der sommerliche Peak bei den Todeszahlen, der sich hüben wie drüben niedergeschlagen hat, sei noch gut mit der extremen Hitzewelle zu erklären gewesen. Aber jetzt? "Wie viele andere Experten sehe ich mehrere mögliche Erklärungen."

Dass Todeszahlen untererfasst würden und sich die medizinische Versorgung verschlechtert habe, hält Röösli für plausible Erklärungen: "Überdies haben Menschen nach einer Covid-Erkrankung ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen." Möglicherweise reagierten sie auch empfindlicher auf andere Infekte, doch das laufe auf Spekulation hinaus.

Sicher ist sich der Fachmann hingegen darin, dass die Übersterblichkeit nicht mit Impfschäden zur erklären ist. "Es gibt keinerlei Daten, die diese Behauptung belegen", sagt Röösli auf Nachfrage des STANDARD.

Impfung unter falschem Verdacht

Das unterstreicht eine weltweite Betrachtung der von einem Weltbankökonomen geführten Analyseplattform "Pandem-ic". Besonders im Vorjahr hätten Länder mit niedrigen Impfraten eine viel höhere Übersterblichkeit hinnehmen müssen, so die Conclusio, während Impfvorreiter am besten abgeschnitten hätten. Im Laufe des heurigen Jahres habe sich dieser Zusammenhang allerdings mehr und mehr verflüchtigt, zumal immer mehr überstandene Infektionen zu einer natürlichen Immunisierung führten.

Demnach spielt die Impfung für die Todesrate also eine Rolle – allerdings in der gegenteiligen Form, als Impfskeptiker vermuten mögen.

Ein deutliches Bild bietet das Covid-19-Register der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG). 57 Prozent der Bevölkerung haben derzeit einen ausreichenden Impfschutz gemäß den Empfehlungen des Nationalen Impfgremiums; doch auf jene Menschen, die dezidiert wegen Covid-19-Symptomen im Krankenhaus gelandet sind, trifft das nur zu 28 Prozent zu. Heißt im Umkehrschluss: Wer nicht oder ungenügend geimpft ist, hat nach wie vor – also auch in der Omikron-Welle – ein beträchtlich höheres Risiko, schwer zu erkranken. (Gerald John, 9.11.2022)