Im Gastblog geben Timo Frühwirth und Sandra Mayer einen Einblick in das Verhältnis von W. H. Auden zu Personen, Politik und Literatur in Österreich.

Seine letzten 15 Lebensjahre verbrachte der britisch-amerikanische Dichter Wystan Hugh Auden zu einem guten Teil im niederösterreichischen Kirchstetten. Die aktuelle Forschung zeigt, wie Auden sich als Lokaldichter neu erfand – und diese Rolle auch wieder ablegte. Hinter dem bedeutenden Mann wird ein Netzwerk österreichischer Frauen sichtbar, deren Anteil an seinem Werk bislang unbeachtet geblieben ist.

Am vierten Donnerstag im November wird in den Vereinigten Staaten traditionell Thanksgiving Day gefeiert. Ein lyrisches Dankfest widmete seiner österreichischen Wahlheimat der Dichter W. H. Auden (1907 bis 1973) in seinem Gedichtzyklus "Thanksgiving for a Habitat" (1965). Geboren in England, war Auden 1939 in die USA emigriert, wo er 1948 den Pulitzer-Preis erhielt. Im selben Jahr machte er die italienische Insel Ischia zu seinem Sommerdomizil. 1957 erwarb er ein Haus in Kirchstetten, die Adresse: Hinterholz 6. Gemeinsam mit seinem Lebensgefährten und künstlerischen Partner Chester Kallman verbrachte er dort bis zu sechs Monate pro Jahr.

W. H. Audens Wohnhaus in Kirchstetten.
Foto: ZEITzeigen Wissenschaftlicher Verein für die Geschichte des westlichen Wienerwalds

Das Haus wurde nicht nur zum wichtigsten Entstehungsort von Audens lyrischem Spätwerk, sondern auch zu einem Treffpunkt internationaler KünstlerInnen und Intellektueller, einschließlich der Komponisten Hans Werner Henze und Nicolas Nabokov. So war Kirchstetten auch der erste Zufluchtsort des späteren Literatur-Nobelpreisträgers Joseph Brodsky, nachdem er 1972 als Dissident aus der Sowjetunion emigriert und zunächst in Wien gelandet war.

W. H. Auden 1969 in der Küche seines Hauses (1) und im Garten seines Wohnhauses (2).
Fotos: ZEITzeigen Wissenschaftlicher Verein für die Geschichte des westlichen Wienerwalds; Stella Musulin (CC BY 4.0 Auden Musulin Papers: A Digital Edition of W. H. Auden's Letters to Stella Musulin)

Im titelgebenden zweiten Gedicht des "Thanksgiving"-Zyklus von 1962 schreibt das lyrische Ich von sich selbst: "I, a transplant // from overseas", also "Ich, Transplantat // aus Übersee". Und weiter, in der neuen Übersetzung Uljana Wolfs:

Land, Status und Liebe
sind, was zählt (die Vögel singen’s alle):
Und was ich nicht zu hoffen, worum ich nicht
zu kämpfen wagte, das gehört jetzt mir, Mitte fünfzig:
Haus und Hof, wo ich nie denen traut sein muss,
die mir nicht vertraut sind

In diesen "Hausgedichten" mischen sich Besitzerstolz und Wunsch nach Stabilität und Geborgenheit mit dem Gefühl des ewigen Fremdseins. So sehr Auden das Haus als sicheren Hafen und kreative Werkstätte schätzte, so sehr blieb er ein ewiger Grenzgänger – zwischen den Kulturen und Sprachen – in der niederösterreichischen Provinz.

Inszenierung als Kichstettener Dichter

Uljana Wolfs Übersetzung ist im Sammelband "Thanksgiving für ein Habitat: W. H. Auden in Kirchstetten" (2018) erschienen, der das in den letzten Jahren verstärkte Interesse am Leben und Wirken des Dichters in Österreich belegt. Dieser neue Blickwinkel zeigt, wie er innerhalb seines neuen Lebens- und Arbeitsumfelds medial positioniert wurde – und sich auch selbst positionierte.

Beispielhaft dafür ist eine Fernsehdokumentation des ORF aus dem Jahr 1967, in der eine enge Analogie zwischen Auden und dem bis heute heftig umstrittenen österreichischen Dichter Josef Weinheber herstellt. Und das, obwohl sich politisch und künstlerisch kaum Schnittmengen zwischen den beiden Schriftstellern feststellen lassen – bis auf den Umstand, dass auch Weinheber in Kirchstetten gelebt hatte, bevor er 1945 Selbstmord beging.

Weinhebers politische Lyrik im Dienst des Nationalsozialismus bleibt in der TV-Doku ausgeblendet. Stattdessen werden in Heimatfilm-Ästhetik Verse aus seinem Gedicht "Kirchstetten" rezitiert, gefolgt von Strophen aus Audens Gedicht "Joseph Weinheber", die ebenfalls die landschaftliche Schönheit Kirchstettens preisen. So erzählt der Film eine Geschichte, die Auden in den Interview-Passagen eifrig mitschreibt: die Geschichte des amerikanischen Dichters als neuer Lokaldichter, den die Liebe zu Wein, zur Oper und zur deutschen Sprache aus Übersee hierhergeführt hat.

"You’re an angel"

Porträt von Stella Musulin.
Foto: Rudolf Blaha; CC BY 4.0 Auden Musulin Papers: A Digital Edition of W. H. Auden's Letters to Stella Musulin

Dass er sein Weinheber-Gedicht als seine "Pflicht" gegenüber der Gemeinde verstehe, schreibt Auden 1965 an Stella Musulin, seine engste österreichische Vertraute mit Wohnsitzen in Wien und Niederösterreich. Vermittelt hatte das Kennenlernen der beiden Christiane Zimmer, die Tochter Hugo von Hofmannsthals. Musulin (1915–1996) war gebürtige Waliserin, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Schriftsteller, Journalisten und Publizisten Janko Musulin geheiratet hatte. Als freischaffende Journalistin und Korrespondentin schrieb sie für "Die Furche" und "Die Presse" ebenso wie für den "Economist" und die "Financial Times". Das Vorwort zu ihrem Buch "Austria: People and Landscape" (1971) stammt von W. H. Auden, mit dem sie in engem intellektuellen und persönlichen Austausch stand. Ihre nach Audens Tod verfassten Memoiren sind die wichtigste biografische Quelle zum Leben des Dichters in Österreich.

Briefe aus der kürzlich in der digitalen Edition der "Auden Musulin Papers" veröffentlichten Korrespondenz von Auden an Musulin dokumentieren nicht nur das Naheverhältnis der beiden "Zugereisten", sondern vor allem auch die Bedeutung dieser Beziehung für die Arbeit Audens. Als Beispiel dafür kann ein Brief des Dichters vom 23. Dezember 1964 gelten. Von Musulin auf das repressive politische System Südafrikas angesprochen, schreibt Auden, dass Folter ein Gräuel sei, das er nicht verstehen könne. Er fragt: "Where do the torturers come from? What class? Whom do they marry? To what pubs do they go?" Audens Weinheber-Gedicht wird diese Fragen kurze Zeit später poetisch recyclen. Auch bei der Übersetzung dieses Gedichts ins Deutsche arbeitete Musulin mit dem Dichter zusammen. Gänzlich aus ihrer Feder hingegen stammt die deutsche Übersetzung einer Rede, die Auden anlässlich der Tagung "Lyrik 70" in Neulengbach hielt. Auden schrieb an Musulin: "You’re an angel". In der Literaturzeitschrift "Podium", in welcher im April 1971 der deutsche Text abgedruckt wurde, fehlt indes der Name der Übersetzerin.

Audens Unterschrift in seinem letzten Brief an Stella Musulin vom 24. September 1973.
Foto: CC BY 4.0 Auden Musulin Papers: A Digital Edition of W. H. Auden's Letters to Stella Musulin
W. H. Auden.
Foto: vermutlich Franz Strobl; ZEITzeigen Wissenschaftlicher Verein für die Geschichte des westlichen Wienerwalds

Berührungspunkte mit der österreichischen Kulturszene

Auch die Wiener Schriftstellerin Herta Staub (1908–1996) übersetzte Audens Texte ins Deutsche. Darüber hinaus setzte sie sich für eine Publikation seiner Gedichte in Österreich ein und ließ für ihn ihre Beziehungen in der Wiener Kulturpolitik spielen. Produktivste Vermittlerin von Audens Werk in Österreich war die britisch-österreichische Schriftstellerin und Journalistin Hilde Spiel (1911–1990). Ihrer Feder verdankt sich der größte Teil der zu Lebzeiten Audens ins Deutsche übertragenen Gedichte W. H. Audens. Spiel war auch Teil der Jury, welche Auden 1966 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur zuerkannte. Der Briefwechsel zwischen Auden und Spiel beleuchtet nicht nur ihre intensive Arbeitsbeziehung. Er ersuchte sie auch um Hilfe, als er in Konflikt mit den österreichischen Steuerbehörden geriet. Gegen eine Steuervorschreibung des Finanzamts hatte er nämlich beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde eingelegt und bat Spiel darum, eine englischsprachige Erklärung zu übersetzen. In diesem Statement dementiert Auden, dass sein Werk von Geschichte und Landschaft seiner Wahlheimat beeinflusst sei, wie dies nach Ansicht der Behörden Audens Weinheber-Gedicht belege.

Im Widerspruch zur (Selbst-)Inszenierung als Kirchstettener Lokaldichter im österreichischen Fernsehen nimmt in dieser Erklärung Auden die Rolle eines nur gelegentlichen Gastes im Land ein. Aus der Stellungnahme spricht nun der internationale Lyrik-Star, der mit einem handfesten "world-scandal" droht und damit, Österreich für immer zu verlassen. Spiel übersetzte den Text (Auden antwortete: "You’re an angel") und sandte ihn an Bundeskanzler Bruno Kreisky mit der Bitte um seine Intervention. Wie Dokumente im Österreichischen Staatsarchiv belegen, hob das Finanzministerium in der Folge die Entscheidung der Steuerbehörden – aufgrund eines Formalfehlers – auf.

Es ist nicht neu, dass Auden kaum Kontakte zu Hauptfiguren der etablierten österreichischen Literaturszene, wie Ernst Jandl (der Auden auch übersetzt hat) oder Thomas Bernhard (mit dem Musulin Auden in Kontakt bringen wollte), unterhielt. Sichtbar wird jedoch ein Netzwerk von Frauen um Auden, deren Anteil an seinem lyrischen Schaffen in Österreich – und damit an diesem besonderen Aspekt der österreichischen Literaturgeschichte nach 1945 – bislang unbeleuchtet geblieben ist. Die wiederholte Formulierung "You’re an angel" ist Ausdruck einer kollaborativen literarischen Praxis, in der der Anteil der künstlerischen Partnerinnen ausgeblendet bleibt.

W. H. Audens Arbeitsplatz in seinem Kirchstettener Haus.
Foto: Timo Frühwirth

In der Nacht vom 28. zum 29. September 1973 verstarb Auden in seinem Hotelzimmer in der Walfischgasse in Wien nach einer Lesung für die Österreichische Gesellschaft für Literatur, die seit kurzem online nachzuhören ist. Der Schriftsteller liegt in Kirchstetten begraben. Das Arbeitszimmer und ein Teil des Dachbodens des Kirchstettener Hauses beherbergen heute eine Dauerausstellung, die 2015 von Helmut Neundlinger neu kuratiert und von Peter Karlhuber gestaltet wurde. (Timo Frühwirth und Sandra Mayer, 10.11.2022)