Erinnern Sie sich noch an den Film "Blair Witch Project"? Oder an die alten "Trailer"-Kinotipps mit Frank Hoffmann? Da wusste man gar nicht, auf was man sich einlässt, und verließ kreidebleich das Kino. Die endlos bedrohlichen "subjektiven" Kamerafahrereien mit Tunnelblick durch dunkle Wälder ließen kaum jemanden unberührt, sie triggerten Urängste.

Ich war damals vieles, nur kein Läufer. Doch falls es damals, 1999, als der Film erschien, Wien Rundumadum schon gegeben hätte, wäre ich wohl deutlich entspannter im Stadtkino gesessen.

Foto: Tom Rottenberg

Zwischen damals und heute liegen mehrere Leben. Das ist aus vielen Gründen gut. Dass ich heute weiß, dass Laufen mit Stirnlampe durch nachtschwarzes Gelände leicht dieses "Blair Witch"-Feeling auslösen kann, ist einer der weniger zentralen davon.

Das wichtigere Learning aus Sportaktivitäten bei "schwarzer Luft": Bedrohlich ist nur, was der eigene Kopf aus Unbekanntem macht.

Wer einmal überrissen hat, wie unbeschreiblich schön es sein kann, in der Nacht vom Bisamberg auf Wien zu schauen, verliert Ängste und Beklemmungen: Dann wird der nicht ganz einfache Nachtflug-Part von Wien Rundumadum zum Highlight. Zum Asset des Laufs rund um die Stadt.

Foto: Tom Rottenberg

Aber der Reihe nach. Der 130-Kilometer-Lauf rund um Wien ist Ihnen vermutlich nicht neu. Er war hier vor zwei Wochen schon Thema. Vergangenes Jahr habe ich ebenfalls von dem Lauf entlang (so halbwegs halt) der Wiener Stadtgrenze erzählt. Aber die Basics dieses als Klassiker geltenden Ultras, der vergangenes Wochenende wieder ausgetragen wurde, sollten doch noch einmal umrissen werden.

Genau genommen ist Wien Rundumadum (WRUM) ein geklauter Name. Obwohl die Stadt Wien – genauer: die MA 49, das Forstamt – wohl alles andere als unglücklich darüber sein dürfte, dass der Name des aus einer Handvoll Wiener Stadtwanderwege zusammengestückelten Wanderrundkurses um die Stadt von den Machern eines Bewerbs übernommen wurde: Mehr Werbung für die Wanderroute kann es ja kaum geben.

Sreenshot: Tom Rottenberg

Rund um Wien gewandert wurde ja schon lange. In den 1990er-Jahren, schrieb ein User zur Kolumne in der Vorvorwoche, habe Helmut Zilk bereits seinem Großvater zum Finishen einer "Rund um Wien" genannten, rot-grün markierten Wanderroute gratuliert. Soweit bekannt, setzte sich diese Strecke aus den Stadtwanderwegen zehn und elf zusammen – zwar nicht überall, aber doch über weite Strecken mit der heutigen WRUM-Route deckungsgleich.

Foto: Tom Rottenberg

Irgendwann – es war 2005 – kam dann ein schlauer Kopf in der städtischen Wald- und Wiesenverwaltung drauf, der ganzen Chose aber System, einen griffigen Namen und ein Logo zu geben: Man unterteilte die etwa 120 Kilometer lange Wanderroute in sechs annähernd gleich lange Segmente und legte Etappenstart- und Endpunkte so, dass Ein- und Ausstiege mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar waren. Mittlerweile sind auf den städtischen Infoseiten sogar 24 Teilstrecken beschrieben, jeweils zwischen drei und zehn Kilometer lang – niederschwelliger geht echt nicht.

Foto: Tom Rottenberg

Wer genau schaut, sieht aber rasch, dass sowohl bei der Wanderung als auch beim Lauf einige Ecken – etwa westlich der Jubiläumswarte oder die wunderschöne Region entlang des Liesingbachs um Oberlaa – fehlen. Das dürfte (auch) der Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln geschuldet gewesen sein und irritierte eigentlich nie wirklich jemanden: Wer eine organisierte 120-Kilometer-Runde angeht, ist meist pragmatisch und froh über markierte Wege – und wer es ganz genau haben will, bastelt sich seine Routen ohnehin selbst.

Foto: Tom Rottenberg

Solche Spezialisten (Spezialistin hat sich bisher da noch keine bei mir gemeldet) gibt es auch immer wieder. Alle paar Jahre meldet sich jemand, der versuchen möchte, die Stadtgrenze präzise – und sei es durch ein Dornengestrüpp – abzuwandern. Oder der genau das gerade getan hat.

Meistens sind diese Leute dann erstaunt und auch ein wenig enttäuscht, dass zuvor schon andere auf diese Idee gekommen sind.

Zu Unrecht: Man muss den Stunt ja dennoch selbst durchziehen – und das ist in jedem Fall alles andere als nichts. Schließlich ist man ja auch auf den ersten Marathon ewig stolz – obwohl ihn jährlich Zigtausende laufen.

Foto: Weekly Long Run

Doch zurück zum "offiziellen" Wanderweg: Dass irgendwann jemand versuchen würde, die sechs Etappen "en bloc" abzuwickeln, war erwartbar. Weil Langstreckenlaufen, insbesondere Traillaufen, im Grunde schnelles Wandern ist und viele Trailläufer gern ein bisserl weiter als 20 Kilometer laufen, wurde WRUM recht bald auch gelaufen. Mitunter auch in einem Stück.

Foto: Tom Rottenberg

2014 wurde dann ein Bewerb draus. Weil aber die Schar derer, die 130 Kilometer – mit 1.880 Höhenmetern – locker in einem Rennen laufen, zwar groß und mächtig und hochaktiv wirkt, von außen aber doch eher überschaubare Dimensionen hat, kamen zur "Ganzen G'schicht" eine "Halbe" und eine "Dreiviertel G'schicht" (88 Kilometer) hinzu. Dazu eine Marathondistanz – und die Möglichkeit, auch als Staffel mit bis zu sechs Teilnehmenden anzutreten. (130 k? Ja: weil Start und Ziel zentral erreichbar sein sollten.)

Und da kamen – im Vorjahr, also recht spät – meine Buddys und ich ins Spiel.

Foto: Tom Rottenberg

Über den ganzen oder den halben "Ultra" (als "Ultra" gilt alles, was über die 42,2 Kilometer eines Marathons hinausgeht) traute sich da keiner von uns. Aber aufgeteilt, dachten wir, könnte das Spaß machen. Richtig viel Spaß: Die ersten zwei Läufer sammelten im Wienerwald und Lainzer Tiergarten (außenrum – der Wanderweg führt durch) ordentlich Höhenmeter. Danach geht es flotter weiter: durch Favoriten und Simmering, über das Kraftwerk in die Lobau und dann durch die Pampa von Donaustadt und Floridsdorf.

Foto: Tom Rottenberg

Während die "Ganze G'schicht"-Einzelstarterinnen und -starter um 5.30 morgens beginnen, laufen alle anderen deutlich später los. Staffel und "Dreiviertel" um 8.30 Uhr, die "Halbe" und der Marathon sogar erst gegen Mittag.

Das Gute daran ist, dass es im Ziel, einer Turnhalle im Donaupark, nie stundenlang fad und leer ist. Klar kommen Läuferinnen und Läufer über etliche Stunden verteilt rein – aber irgendwie eben doch gemeinsam.

Das Blöde: Sogar die ganz Schnellen kommen bestenfalls in der Dämmerung ins Ziel. WRUM-Mehrfachsieger Klemens Huemer gewann heuer mit 12:42, im Vorjahr mit 12 Stunden und 20 Minuten. Rainer Herczeg – der letzte der 38 Volldistanz-Finisher von 2021 – lief 22 Stunden und 34 Minuten.

Gefeiert wird hier aber jeder und jede: Eben weil im Ziel immer Freunde, Bekannte und andere Teilnehmende sind. Die Party dauert eben länger.

Foto: VollenhoferULTHeustadlwasser

Im November wird es in Wien ab etwa 17 Uhr dämmrig. Da ist das Gros der Teilnehmenden gerade irgendwo zwischen Lobau (hier im Bild wechselt ein 130-k-Läufer Gewand und Schuhe), Seestadt, Süßenbrunn und Gerasdorf. Oder am Bisamberg. Über Feldwege, den Marchfeldkanal entlang und über Stock und Stein den Bisamberg hinauf.

Man rennt da nicht nur im Dunkeln, sondern oft auch mutterseelenallein. Und das durch Landschaften, die bei Tageslicht stellenweise wunderschön, streckenweise aber auch so fad, öde und leer sind, dass es besser ist, sie nicht zu sehen.

Auf den Wind, der hier im Herbst oft pfeift, könnte man aber zu jeder Tageszeit gut und gern verzichten.

Foto: Tom Rottenberg

Gegen die Einsamkeit kann man etwas tun: für Gesellschaft sorgen. Die hebt dann nicht nur die Moral, sondern vertreibt auch Unsicherheiten beim Navigieren. Denn auch wenn die WRUM-Macher in den Tagen vor dem Lauf versuchen, übers Jahr "verschwundene" Taferln wieder anzubringen, auch wenn sie an unübersichtliche Stellen zusätzlich reflektierende Bänder knoten, auch wenn die herunterladbaren GPX-Tracks für Uhr oder Handy präzise sind, auch wenn ein genaues, aktuelles Routenbuch im Startersackerl liegt: Man kann sich trotzdem verkoffern. Und zwar richtig – auch wenn das von daheim aus wie ein Kunststück wirken mag.

Sogar wenn man sich in der Lobau wirklich gut auskennt, ist Laufen im "Blair Witch"-Modus hier eine Challenge: Alle Gabelungen sehen plötzlich gleich aus – und der Josefsteg müsste – gefühlt – ganz woanders sein.

Foto: Tom Rottenberg

Deshalb war ich heuer auch dabei. Mitlaufen war geplant, ging aber nicht. Wegen einer harmlosen, aber doch eine Laufpause gebietenden Kleinstigkeit. Aber für das "Begleitpony" auf dem Rad reichte es.

Nicht, weil irgendwer läuferische Unterstützung (oder gar einen Sherpa für die Pflichtausrüstung) gebraucht hätte. Aber ein "fetter" Zusatzscheinwerfer, Windschatten, Zuspruch und ein zweites Navi sind erlaubt. Und auch wenn die Veranstalter selbst einen sehr guten Streckensicherungs-Wir-holen-dich-da-raus-Job machten: Zu wissen, dass man jemanden – auch andere, befreundete Staffeln (und im Grunde eh jeden) – im Umknöchelfall anrufen kann, der einen Daunenanorak und eine Thermoskanne Tee dabei hat, ist gut für den Kopf.

Foto: Tom Rottenberg

Wir traten heuer mit zwei Staffeln an: "Gschwind" und "Genuss". Ich begleitete die zweite ab Simmering. Hans übernahm dort in der Dämmerung von Regina und lief bis Süßenbrunn, rund 28 Kilometer. Ab dort sollte Silvia die letzten 27 Kilometer "nach Hause" bringen: Gerasdorf, Marchfeldkanal, Bisamberg, Strebersdorf, Donauinsel – die Etappe des "Erkundungslaufs" vor zwei Wochen.

An der Übergabe wartete dann aber eine sehr feine Überraschung: Elisabeth, die Tochter meiner Freundin, war auch da. Sie strahlte uns an: "You'll never run alone, Sista! Können wir los? Mir wird kalt."

Der Flug durch die Nacht war ein Traum. Nicht nur, weil die beiden jungen Frauen fast ab dem ersten Meter synchron und supersauber liefen. Mehr noch: Wer Schulter an Schulter so läuft, hilft sich gegenseitig beim Tempomachen und -halten. Mein Radcomputer – ich war mittlerweile über sechs Stunden unterwegs – hatte sich am Bisamberg zwar verabschiedet, aber wie mühe- und schwerelos die beiden da Gas gaben, sah und spürte man ohne Zahlen auch im Dunkeln.

Aber viel wichtiger: Die beiden strahlten.

Als die Lichter der Stadt uns an der Donau wieder entgegenblinkten, als wir das Ziel schon riechen konnten, wusste ich schon, was am nächsten Tag kommen würde: "Nächstes Jahr sind wir wieder dabei. Wenn möglich, nicht nur in der Staffel – und du rennst dann gefälligst auch mit."

Foto: Tom Rottenberg

Klemens Huemer siegte wie in den Jahren zuvor souverän in 12 Stunden 42 Minuten. Schnellste Frau auf der 130-k-Strecke war Susan Müller mit 21:13 – es finishten nur zwei Frauen die Volldistanz. Als Letzte kamen Josef Stöger und Erwin Ostry mit 23:05 ins Ziel, insgesamt beendeten heuer 38 Teilnehmende die "Ganze G'schicht".

Die "Dreiviertel G'schicht" schafften 39, die "Halbe" 46 und die "Kurze" (also die Marathondistanz) 46 Teilnehmende. Von den 27 Staffeln über die volle Distanz gewann das Lauflupe-Performance-Team mit 8:58, meine schnellen Vereinskolleginnen und Vereinskollegen kamen mit 11:54 auf den dritten Platz, das von mir begleitete Genuss-Team war nach 14:09 auf dem 16. Platz im Ziel – das letzte Staffelteam beendete den Lauf nach 17 Stunden und 27 Minuten. (Tom Rottenberg, 8.11.2022)

Foto: Tom Rottenberg