Der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer geht in seinem Gastkommentar auf das Verhältnis von Frankreich und Deutschland ein. Er warnt vor "echten Konflikten. In Zeiten der Rückkehr des Krieges wäre dies das Letzte, was Europa brauchen würde".

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Kanzler Olaf Scholz: Können sie miteinander? Und wie ist es um das Verhältnis der beiden Staaten bestellt?
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Ein unausrottbares menschliches Vorurteil besagt, dass angeblich früher alles besser war. Diese Feststellung hält jedoch einer genauen Prüfung des Sachverhalts nicht stand, zumindest was die deutsch-französische Beziehung betrifft. Krach, ja, schwere Zerwürfnisse gab es in dieser für Europa entscheidenden Beziehung nahezu von Anfang an.

Die deutsch-französische Beziehung war und ist die zentrale Achse der EU, um die herum die Europäische Union gebaut wurde. Ohne diese beiden größten, wirtschaftlich und politisch stärksten Akteure, die auch den Ausgleich zwischen dem europäischen Norden und dem mediterranen Süden in sich verkörpern, geht in dieser Union nicht wirklich etwas voran.

Die östliche Dimension

Doch seit der Osterweiterung der EU ist diese größer und auch in ihren internen Mechanismen komplizierter geworden. Eine neue Dimension kam zu der traditionellen Nord-Süd-Ausrichtung hinzu, die östliche Dimension. Diese wirkt umso mehr, seit das Russland Wladimir Putins den souveränen Nachbarstaat Ukraine militärisch überfallen hat und dadurch der große Krieg nach Europa zurückgekehrt ist. Wie immer dieser Krieg auch enden wird, der Vertrauensverlust zwischen Europa und Russland wird nicht einfach wieder ungeschehen gemacht werden können. Dieser Krieg hat den gesamten Kontinent radikal verändert, und eine Art neuer Kalter Krieg wird in Osteuropa zurückbleiben. Diese absehbare anhaltende Bedrohung zwingt die EU und ihre Mitgliedstaaten, sich, ihre freiheitliche Ordnung und ihre Grundsätze militärisch zu verteidigen.

"Die militärische Bedrohung der Freiheit des Kontinents ist nach dreißig Jahren zurück, und Deutschland wird als Europas stärkste Wirtschaftsmacht sich fortan von seinem Pazifismus verabschieden und auch militärisch aufrüsten müssen."

Die Europäische Union wird sich zu einem souveränen geopolitischen Akteur mit eigener militärischer Abschreckungsfähigkeit und eigenen politisch-wirtschaftlichen Interessen transformieren müssen.

Furchtbare Geschichte

Für kaum ein Land der EU trifft dies mehr zu als auf Deutschland, dem an Bevölkerung größten und wirtschaftlich potentesten Mitgliedstaat, in der Mitte Europas gelegen. Bedingt ist dies durch seine furchtbare Geschichte im 20. Jahrhundert – zweimal versuchte Deutschland den Griff nach der Weltmacht, setzte dabei den europäischen Kontinent in Flammen und beging unter Hitler beispiellose Verbrechen, was 1945 in der bedingungslosen Kapitulation und Teilung des Landes endete.

Die Nation von Kriegern verwandelte sich in eine Nation erfolgreicher Händler und friedlicher Produzenten, die fortan dem Krieg entsagte, so Exportweltmeister wurde und einem breit im Volk verankerten Pazifismus folgte. Dieser schuf das Vertrauen bei den früheren Feinden des Landes, welches für die friedliche Wiedervereinigung 1990 notwendig war.

Zerstörte Illusion

Putins Angriffskrieg vom 24. Februar gegenüber der Ukraine hat diese Illusion unwiederbringlich zerstört. Die militärische Bedrohung der Freiheit des Kontinents ist nach dreißig Jahren zurück, und Deutschland wird als Europas stärkste Wirtschaftsmacht sich fortan von seinem Pazifismus verabschieden und auch militärisch aufrüsten müssen, das heißt sein ökonomisches Potenzial in strategische Währung umsetzen müssen. Dabei wird dieses veränderte Deutschland durch seine Nachbarn kritisch beäugt werden.

Mit der "Zeitenwende"-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag mit dem Sonderprogramm von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, gefolgt von einem noch größeren Paket von 200 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Folgen der Explosion der Energiepreise für Bürger und Wirtschaft, werden diese Veränderungen des Landes in Form der Verknüpfung ziviler und militärischer Investitionen konkret sichtbar. Dies führt jedoch auch zu Nervosität jenseits der Grenzen Deutschlands.

Vor allem Frankreich, einzige Nuklearmacht und ständiges Sicherheitsratsmitglied der UN in der EU – beides will und wird Deutschland nicht werden –, hat mit diesem sich verändernden Deutschland Probleme, zumal wenn sich zu einer solchen historischen Zeitenwende noch völlig überflüssige Ungeschicklichkeiten und Abstimmungsdefizite des Bundeskanzlers dazugesellen. Bis heute weiß Europa nicht, welches Europa dieses sich verändernde Deutschland eigentlich will. Das schafft völlig unnötigerweise Unsicherheit.

Brisante Mischung

Daraus kann eine brisante Mischung entstehen, durch die sehr schnell aus Missverständnissen und Ungeschicklichkeiten auf beiden Seiten echte Konflikte werden können. In Zeiten der Rückkehr des Krieges wäre dies das Letzte, was Europa brauchen würde. Es bedarf vielmehr des genauen Gegenteils, nämlich einer sehr viel engeren Kooperation und Zusammenarbeit der beiden Großen innerhalb der EU, gerade auch bei gemeinsamen Rüstungsprojekten.

Erschwerend kommt die Verschiebung des Schwerpunkts der EU Richtung Osten durch Putins Krieg in der Ukraine hinzu, mit dem daraufhin erfolgten Beitrittsversprechen an die Ukraine, Georgien und Moldawien. Dieses Versprechen wird den Charakter der EU als gemeinsames Markt- und Modernisierungsprojekt fundamental in Richtung eines geopolitischen Akteurs verschieben. Hinzu gesellen sich die langjährigen und nach wie vor offenen Beitrittsversprechen gegenüber den Staaten des westlichen Balkans und die extrem komplexe Frage der Türkei. Die enge Anbindung dieser Regionen an Europa liegt in dessen überragendem strategischem Interesse.

Sicherheit bewahren

In diesen Regionen unter Einschluss des östlichen Mittelmeeres und des nördlichen und westlichen Afrikas wird es in den kommenden Jahrzehnten Europas Sicherheit zu bewahren gelten. Gemeinsam mit unseren transatlantischen Partnern mittels einer starken Nato und EU. Diese wird es allerdings nur geben, wenn das Paar diesseits und jenseits des Rheins zum Wohle des europäischen Projekts in Freundschaft und gemeinsam mit den anderen Europäern zusammenarbeitet. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 9.11.2022)