Die Demonstration für bessere Arbeitsbedingungen fand am Dienstag in Wien statt.

Sie betreuen Schulkinder am Nachmittag, pflegen alte Menschen oder kümmern sich um Jugend- und Behindertenwohnheime. Sie arbeiten als Sozialarbeiter und beraten Jobsuchende. Es ist eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Beschäftigten aus verschiedensten Berufen, für die aktuell bei den Kollektivvertragsverhandlungen der Sozialwirtschaft um einen Lohnabschluss gerungen wird. Am Dienstag machten tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sektors ihrem Unmut über die schleppenden Gespräche mit den Arbeitgebern Luft: In zahlreichen Betrieben gab es Betriebsversammlungen, in Wien wurde demonstriert.

Interesse haben die Lohnverhandlungen in der Sozialwirtschaft aber schon vor dem Protesttag geweckt, und das liegt an der forschen Forderung der beteiligten Gewerkschaften: Sie wollen 15 Prozent mehr Lohn.

Das liegt deutlich über der Anfangsforderung der starken Metallergewerkschaft, die mit dem Wunsch nach plus 10,6 Prozent in die Verhandlungen gegangen ist (und im Schnitt 7,4 bekommen hat). Auch im Handel werden bei den laufenden Gesprächen "nur" zehn Prozent gefordert. Wieso also verlangen die Gewerkschaften Vida (Dienstleistungen) und GPA (Privatangestellte) so viel mehr in der Sozialwirtschaft – und werden sie sich durchsetzen?

Abgegolten wird in den Lohnverhandlungen immer die Inflationsrate der zurückliegenden zwölf Monate. Für die Sozialwirtschaft ist dieser Wert bereits etwas höher als bei den Metallern, weil auch der Oktober, wo die Teuerung bereits bei elf Prozent lag, schon in die Berechnung eingeht. Aber das erklärt nur einen kleinen Teil der Differenz.

Gewerkschaft sieht Rückenwind für Branche ...

Wer beteiligte Gewerkschafter nach den 15 Prozent fragt, bekommt zu hören, dass die vergangenen drei Jahre mit der Pandemie für die Beschäftigten in der Sozialwirtschaft besonders herausfordernd waren, dass sich der Personalmangel in der Branche immer stärker bemerkbar mache, was zusätzliche Belastungen bringe. Und dass es generell an der Zeit wäre, die zum Teil sehr harte Arbeit, die vor allem von Frauen erledigt wird, gut abzugelten, wie Vida-Verhandlerin Michaela Guglberger sagt. 130.000 Beschäftigte umfasst die Sozialwirtschaft, und gut 70 Prozent davon sind Frauen.

Die Branche ist kein Niedriglohnsektor, die Einstiegsgehälter für Fachsozialarbeiterinnen in der Altenpflege liegen bei 2.278 Euro, für Heimhilfen sind es 1.965 Euro. Aber im Vergleich zu anderen Branchen, besonders der Industrie, sind die Löhne bescheidener, bezahlt wird im Regelfall nach Kollektivvertrag, Überzahlungen gibt es kaum. Dazu kommt, dass in dem Sektor viel Teilzeit gearbeitet wird, die erwähnten Beträge also nur ein Teil des Personal voll mitnehmen kann.

... der bisher kaum genutzt wurde für Lohnsteigerungen

Aber auch andere Jobs sind hart, für die 15-Prozent-Forderung muss es noch andere Gründe geben. Ein Faktor dürfte sein, dass in der Sozialwirtschaft der letzte Kollektivvertrag bereits im April 2020 fixiert wurde, und zwar mit einer Geltungsdauer von drei Jahren. Der Abschluss lässt sich im Vergleich zu Tarifvereinbarungen aus anderen Branchen sehen, in den ersten beiden Jahre war das Plus in der Sozialwirtschaft höher als bei den Metallern. Doch lange, mehrjährige Abschlüsse sind riskant – und das zeigt sich in diesem Fall für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Denn ausgerechnet im Hochinflationsjahr 2022 gab es für einen Teil der Beschäftigten, das Drittel, das Vollzeit arbeitet, statt mehr Geld nur eine Verkürzung der Arbeitszeit von 38 auf 37 Stunden. Die übrigen Beschäftigten bekamen 2,7 Prozent mehr Lohn, was im Vergleich kein schlechter, aber auch kein besonders guter Abschluss war. Hinzu kommt, dass vor allem die Pflegebranche seit der Pandemie öffentlichen Rückenwind verspürt – diesen ob des lang im Vorhinein vereinbarten Kollektivvertrags aber bisher nicht in höhere Löhne ummünzen konnte.

Ein weiterer Faktor dürfte sein, dass die Löhne der Sozialwirtschaft letztlich von der öffentlichen Hand bezahlt werden: Die großen Arbeitgeber sind Volkshilfe, Hilfswerk, Caritas Socialis. Sie bekommen den größten Teil der Ausgaben fürs Pflegepersonal von den Ländern ersetzt. Ein weiterer großer Geldgeber der übrigen Vereine im Sektor sind AMS und die Gemeinden. Die Gewerkschaften versuchen also mit den Protesten auch in Richtung der öffentlichen Geldgeber Druck aufzubauen: Aus ihrer Sicht sollten diese sich nicht knausrig geben.

Die Arbeitgeber nennen freilich noch einen Grund für die 15 Prozent: Walter Marschitz, Geschäftsführer des Vereins Sozialwirtschaft Österreich, der die Interessen der Arbeitgeber vertritt, sagt, dass bei der Formulierung der Lohnforderungen aufseiten der Gewerkschaft Betriebsräte ein besonders großes Mitspracherecht haben, größer als in anderen Branchen, weshalb die Gespräche manchmal eine "Eigendynamik" gewinnen. Sprich: Es sei nicht das erste Mal, dass die Gewerkschaft viel mehr will, als am Ende rausschaut.

Jede Seite zeigt, dass sie kämpft

Die Arbeitgeber bieten derzeit 7,5 Prozent mehr Lohn an. Das entspricht gerade der Inflation im relevanten Verhandlungszeitraum und dürfte noch nachgebessert werden. Allerdings sagt Marschitz, dass er einen Abschluss, der sich weit vom Metallerergebnis, der Benchmark, wegbewegt, für nicht realistisch hält.

Dass die Gewerkschaft zu Protesten aufrufe, sei Teil der Mobilisierung im Rahmen der Kollektivvertragsverhandlungen: Jede Seite wolle zeigen, wie hart sie kämpfe, ansonsten lasse sich ein Abschluss den eigenen Mitgliedern kaum verkaufen. Tatsächlich haben sich Vida und GPA bisher keine Streikfreigabe geholt – somit bleibt noch Spielraum für eine Einigung bei den Verhandlungen, die am 16. November fortgesetzt werden. Sollte es da keine Annäherung geben, könnte das mit der Streikfreigabe relevant werden. (András Szigetvari, 8.11.2022)