Israel könnte unter der neuen Regierung zu einer "hohlen Demokratie" werden, sagt Amir Fuchs, Forscher am renommierten Israelischen Demokratieinstitut (IDI). Im Bild der wahrscheinliche zukünftige Premier Benjamin Netanjahu.

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Regierungen lassen sich tendenziell ungern auf die Finger schauen. Israels voraussichtliche künftige Regierung ist hier keine Ausnahme. Mit einem einfachen Kniff wollen die Parteien, die sich derzeit in Koalitionsverhandlungen befinden, den Obersten Gerichtshof als Kontrollinstanz ausschalten. Das hatten die rechtsradikalen und religiösen Parteien schon im Wahlkampf angekündigt, nun scheinen sich die Pläne aber zu konkretisieren.

Wie aus Verhandlerkreisen zu hören ist, besteht dabei weitgehend Einigkeit. Die Frage ist nicht, ob die Justiz in ihrer Macht beschnitten wird – sondern nur noch, inwieweit. Der Oberste Gerichtshof erfüllt in Israel auch die Funktion eines Verfassungsgerichts: Er prüft auf Verlangen, ob Gesetze gegen Grundrechte verstoßen.

Bisher bereits wenig Kontrolle

Anders als in Ungarn oder Polen müssen die Rechtsparteien in Israel auf dem Weg zu ihrer Verfassungsreform keine hohen Hürden überwinden. Es gibt in Israel nämlich gar keine formale Verfassung. Zwar gibt es Grundrechte, die das Zusammenspiel von Parlament, Regierung und Justiz regeln oder Minderheitenrechte garantieren. Doch diese Grundrechte können mit einer Mehrheitsabstimmung im Parlament geändert werden.

Es gibt in Israel auch keine klare Trennung zwischen Regierung und Parlament. Die meisten Minister sind zugleich Parlamentsabgeordnete. Zudem besteht das Parlament nur aus einer Kammer, auch hier fehlt also eine Kontrollinstanz.

Sachte Rechtsanwendung

Das einzige Organ, das der regierenden Mehrheit noch in die Quere kommen kann, ist in Israel der Oberste Gerichtshof. Wenn die Regierung etwa ihre Parlamentsmehrheit nutzte, um demokratische Grundrechte einzuschränken, konnten die Höchstrichter das Schlimmste verhindern.

Sie taten das aber ohnehin äußerst sachte: In den vergangenen dreißig Jahren hat das Höchstgericht nur zwanzig Gesetzesvorhaben gekippt, weil sie grundrechtswidrig waren. Dabei ging es in vielen Fällen um die Rechte von illegalisierten Arbeitsmigranten aus Eritrea oder dem Sudan, aber auch um die Gleichstellung von LGBTQ-Personen. Den Rechtsparteien ging aber selbst das zu weit. Sie sprachen von einem "Gerichtstotalitarismus" und verleumdeten Höchstrichter als demokratisch nicht legitimierte Lobbyisten einer abgehobenen Elite.

Parlament könnte Gericht ausschalten

Jene rechten, rechtsradikalen und strengfrommen Parteien, die nun über eine neue Regierungszusammenarbeit verhandeln, wollen die Kontrollfunktion des Höchstgerichts ausschalten. Jede Gesetzesreform, die künftig vom Höchstgericht wegen einer Grundrechtsverletzung abgelehnt wird, soll noch einmal ans Parlament gehen.

Eine absolute Stimmenmehrheit soll dann reichen, um den Höchstgerichtsspruch für null und nichtig zu erklären. Dann wäre theoretisch alles möglich: "Im Extremfall könnte die Regierung mit ihrer Mehrheit beschließen, dass einzelnen Gruppen das Wahlrecht entzogen wird", sagt Politikwissenschafter Amir Fuchs, Forscher am renommierten Israelischen Demokratieinstitut (IDI).

"Hohle Demokratie"

Für die Israelis wären die Folgen jedenfalls fatal. Die Rechte von Frauen, von israelischen Arabern, LGBTQ-Personen, aber auch die Rechte säkularer Israelis seien zuallererst in Gefahr, "früher oder später trifft es aber alle", sagt Fuchs. Die einzige Kontrollinstanz der israelischen Demokratie wäre lahmgelegt. "Israel würde zu einer hohlen Demokratie verkommen, in der es nur noch Wahlen gibt, sonst nichts", sagt Fuchs.

Und auch die Wahlen drohen manipuliert zu werden, wenn das Höchstgericht entmachtet wird. So hätte beispielsweise bei den jüngsten Wahlen am 1. November die arabische Balad-Liste gar nicht antreten dürfen, wenn der Oberste Gerichthof nicht dafür eingestanden wäre: Die parteipolitisch besetzte Wahlkommission hatte Balad zuvor von der Wahl ausgeschlossen, die Partei hatte sich per Anfechtung erfolgreich dagegen gewehrt.

Politische Kontrolle über Richter

Noch ein Umstand macht es den autokratieverliebten Rechtsparteien in Israel leichter, sich der Justizkontrolle zu entziehen, als das etwa in Ungarn der Fall ist: Es gibt anders als in europäischen Staaten keine supranationalen Verflechtungen, beispielsweise in der Europäischen Union oder im Europarat, die dazu beitragen, den Grundrechtseinschränkungen einzelner Staaten Grenzen zu setzen.

Die geplante Entmachtung des Höchstgerichts ist nur eine der Justizreformen, die den verhandelnden Koalitionsparteien vorschweben. Sie möchten auch die Richterbestellung und die Ernennung des Generalstaatsanwalts unter politische Kontrolle bringen. Den Rechtsradikalen geht es dabei vor allem darum, ungehemmt gegen Minderheiten vorgehen zu können, wohl aber auch darum, Terroristen aus den eigenen Reihen vor Strafverfolgung zu schützen. Die ultraorthodoxen Parteien hingegen streben einen Ausbau ihrer Privilegien an – etwa eine absolute Befreiung vom Militärdienst. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 8.11.2022)