Justizministerin Alma Zadić (rechts) und Integrationsministerin Susanne Raab wollen Änderungen in den Haftanstalten.

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Die Wehklagen sind seit Jahren bekannt. Die Justizanstalten sind überfüllt. Jene, die es bräuchten, können nicht adäquat behandelt werden. Denn medizinisches Personal ist nicht ausreichend vorhanden – und viel zu viele Personen landen in Österreich im Maßnahmenvollzug. Gedacht ist dieser für psychisch erkrankte Menschen, die straffällig geworden sind und aufgrund ihrer Erkrankung nicht für die normale Haft geeignet sind. Praktisch werden viel zu viele Menschen für zu lange im Maßnahmenvollzug weggesperrt.

Erstens, weil die Voraussetzungen zur Unterbringung nach der bestehenden Rechtslage ziemlich niederschwellig sind. Zweitens, weil der Maßnahmenvollzug im Gegensatz zu einer "normalen" Haftstrafe nicht zeitlich begrenzt ist. Entlassen wird man erst, wenn einem ein Gutachten bescheinigt, nicht mehr gefährlich zu sein. Nicht nur Fachleute fordern deshalb seit langen Jahren eine Reform des Maßnahmenvollzugs. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Österreich in diesem Zusammenhang bereits wiederholt verurteilt.

Zadić: "Dämpfende Maßnahme"

Nach mehreren gescheiterten Reformversuchen – zuletzt 2017 – kommt die Neuregelung nun tatsächlich in Gang. Am Mittwoch stellten Justizministerin Alma Zadić (Grüne) und Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) eine Regierungsvorlage vor, die zuvor im Ministerrat beschlossen wurde und jetzt in die Begutachtung geht. Der künftige Maßnahmenvollzug solle damit gerechter werden, sagte Zadić. Und das neue Gesetz solle auch eine "dämpfende Maßnahme" sein. Denn mit Änderungen bei den Unterbringungsvoraussetzungen sollen künftig deutlich weniger Menschen in den Maßnahmenvollzug kommen.

Laut dem Gesetzesentwurf können psychisch erkrankte Rechtsbrecher nur noch dann potenziell lebenslang in eine Anstalt eingewiesen werden, wenn das Delikt, das sie begangen haben, mit mehr als drei Jahren (bisher: ein Jahr) Freiheitsstrafe bedroht ist. Eine Ausnahme gibt es dafür allerdings: Bei Gefahr für die sexuelle Integrität oder Leib und Leben reicht schon ein Strafmaß ab einem Jahr aus.

Aktuell befinden sich dort laut Justizministerium rund 1.400 Menschen. Der Großteil davon (830) sind zurechnungsfähige Untergebrachte – solche also, die zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig waren und für die von ihnen begangenen Straftat bestraft werden. Aufgrund ihres psychischen Zustands werden sie aber zusätzlich noch der vorbeugenden Maßnahme unterzogen. Die kleinere Gruppe (590) besteht aus Personen, die aufgrund ihrer Erkrankung zum Tatzeitpunkt nicht zurechnungsfähig waren – und daher auch nicht bestraft werden, sondern im Maßnahmenvollzug gehalten, um etwaige weitere Delikte zu verhindern.

Minderschwere Delikte aktuell in der Überzahl

Gerade bei den zurechnungsfähigen Untergebrachten sind die Zahlen aber in den vergangenen Jahren immer weiter nach oben gegangen. Und schon seit 2010 sind die minderschweren Delikte in der Überzahl. Deshalb sollen künftig nur noch Personen, die "eine echte Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen", wie es das Justizministerium formuliert, auch weiterhin im Maßnahmenvollzug untergebracht werden. Personen, deren Fremdgefährdung besser nach dem (allgemeinen) Unterbringungsgesetz behandelt werden kann, sollen dagegen nicht mehr im Maßnahmenvollzug landen.

Stößt etwa jemand im Zuge eines psychotischen Schubs einen Gerichtsvollzieher oder einen Polizisten oder spricht diese Person eine Drohung aus, soll sie nicht mehr unbedingt im Maßnahmenvollzug landen. Denn aktuell seien Fälle wie dieser die "Klassiker" im Maßnahmenvollzug, heißt es aus dem Justizministerium zum STANDARD: Ein psychisch erkrankter Mensch kann aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr arbeiten und gehtpleite. Der Gerichtsvollzieher kommt vorbei und wird von der Person gestoßen. Beim zweiten Besuch des Gerichtsvollziehers passiert das erneut. Damit hat die Person zwei Mal schwere Körperverletzung begangen – weil es sich beim Gerichtsvollzieher um einen Beamten handelt – und kommt in den Maßnahmenvollzug.

Entschärfte Regeln für Jugendliche

Außerdem beinhaltet das neue Gesetz erstmals eigene Regeln für Jugendliche. Sie sollen künftig nur mehr bei einem Kapitalverbrechen mit einer Freiheitsstrafe von zehn oder mehr Jahren in den Maßnahmenvollzug kommen. Bei Mord oder schwerer Vergewaltigung wird es also weiterhin Maßnahmenvollzug geben, etwa für einen Raufhandel dafür nicht mehr.

Auch die verwendeten Begriffe werden zugunsten "neutralerer und weniger stigmatisierender" Formulierungen generalüberholt: Die derzeitigen "Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher" werden zu "Forensisch-therapeutischen Zentren". Die im Gesetz genannte "geistige oder seelische Abartigkeit höheren Grades" heißt in Zukunft "schwerwiegende und nachhaltige psychische Störung".

Bußjäger: "Menschenrechtliches Problem"

Für den Verfassungs- und Verwaltungsrechtler Peter Bußjäger ist die Modernisierung des Maßnahmenvollzuges grundsätzlich sinnvoll, weil überfällig, wie er im STANDARD-Gespräch sagt: "Es hat sich zu einem menschenrechtlichen Problem ausgewachsen, das man in den Griff bekommen sollte." Über die Jahre seien zu viele Fälle bekanntgeworden, in denen die Verhängung des Maßnahmenvollzugs nicht nachvollziehbar gewesen sei. Denn dieser sei die massivste Einschränkung der Freiheit, die es in einer Demokratie überhaupt geben könne. Fasse jemand eine Freiheitsstrafe aus, komme er nach bestimmter Zeit wieder frei, könne diese Frist mittels guter Führung noch wesentlich verkürzen und habe mitunter das Recht zum Ausgang bis hin zu dem der elektronischen Fußfessel.

Beim Maßnahmenvollzug könne man dagegen grundsätzlich ein Leben lang eingesperrt werden. Das sei aber nur in sehr wenigen Fällen wirklich nötig. Und die steigende Zahl der Fälle deute darauf hin, "dass man vielleicht nicht immer so genau geprüft hat, ob diese schweren Maßnahmen wirklich notwendig sind". Die Gesetzesänderung sei daher im Sinne des Freiheitsschutzes. "Natürlich muss gleichzeitig auch die Sicherheit der Gesellschaft gewahrt bleiben", so der Jurist. Entscheidend sei die Verhältnismäßigkeit, die in den vergangenen Jahren nicht immer gegeben schien.

Sonderbestimmung für Terroristen

Beschlossen wurde auch ein türkises Überbleibsel. Altkanzler Sebastian Kurz (ÖVP) schlug nach dem jihadistischen Terroranschlag in Wien vor, bereits verurteilte Terroristen nach ihrer Haft auf unbestimmte Zeit im Maßnahmenvollzug unterzubringen – solange sie noch radikalisiert sind. Fast zwei Jahre später ist das auch koalitionär beschlossene Sache. Allerdings so eng gezurrt, dass sie wohl kaum jemanden betreffen wird.

Die "Terroristen-Haft" wird ein "Sonderfall" im existierenden Maßnahmenvollzug für Rückfallstäter. Darunter fallen künftig nur jene, die eine schwere Vortat (unbedingte Freiheitsstrafe von mehr als zwölf Monaten) sowie eine Anlasstat mit Terrorbezug ( zu mindestens 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt) begangen haben und von einer weiteren einschlägigen Gefahr auszugehen ist.

"Eine Showgeschichte"

Davon hält der Leiter des Strafrechtsinstituts der Linzer Kepler-Universität, Alois Birklbauer, herzlich wenig. Der Maßnahmenvollzug für gefährliche Rückfallstäter sei seit Jahren totes Recht, sagt Birklbauer. Das werde sich durch die Einbeziehung von Terroristen nicht ändern, weil kaum jemand dafür in Betracht kommen würde. "Es ist eine Showgeschichte, die aus kriminologischer Sicht eigentlich sinnlos ist."

Überhaupt sei bei der Reform nur "an den Zahlen gedreht worden", resümiert der Experte. Künftig sollen einfach weniger Personen in den Maßnahmenvollzug kommen. Was laut Birklbauer aber gänzlich fehlt, ist ein Reformansatz, wie Insassen weniger gefährlich werden können und welche Therapien es dafür bräuchte. Derzeit gebe es beispielsweise keinen Rechtsanspruch für Behandlungen, weshalb sie aufgrund von Ressourcengründen oft gar nicht stattfinden würden. (Jan Michael Marchart, Martin Tschiderer, 9.11.2022)