Zwei der querschnittgelähmten Studienteilnehmer ist es möglich, mit Rollatoren und implantierten Elektroden einen Schritt vor den nächsten zu setzen.
Foto: NeuroRestore / Jimmy Ravier

Der medizinische Fortschritt macht vor der menschlichen Mobilität nicht halt: Bereits zu Beginn des Jahres teilte ein internationales Forschungsteam einen wichtigen Entwicklungsschritt zur Behandlung bestimmter Fälle der Querschnittslähmung (DER STANDARD berichtete). An drei Patienten wurden neuentwickelte Implantate getestet, die über Nervenbahnen Muskeln ansteuern. Sie können nicht nur das Gehen am Rollator ermöglichen, sondern auch Schwimmen und Radfahren.

Nun erreichte das Team um Grégoire Courtine von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (EPFL) Lausanne und der Uni-Klinik Lausanne (Schweiz), zu dem auch der Bewegungsexperte Karen Minassian von der Med-Uni Wien gehört, einen weiteren Meilenstein. Es weitete seinen Patientenkreis auf insgesamt neun Personen aus, wie im Fachmagazin "Nature" berichtet wird.

Unklare Funktionsweise

Zum Einsatz kommen bei der Technologie Elektroden-Implantate in der Wirbelsäule, die durch eine Software und künstliche Intelligenz gesteuert werden. Die Implantate stimulieren im Rückenmark Nervenzellen (Neuronen), die Impulse weitergeben und die Skelettmuskeln aktivieren können. So ließen sich bei Versuchen auch die Beine von Menschen mit chronischen Rückenmarksverletzungen bewegen, bei denen diese Verbindungen eigentlich beschädigt sind.

Alle neun Personen der neuen klinischen Studie haben schwere oder vollständige Lähmungen, denen solche Schäden am Rückenmark zugrunde liegen. Die Implantate bewirkten in allen Fällen, dass sie ihre Gehfähigkeit entweder sehr schnell wieder erlangten oder im Zuge einer fünfmonatigen Behandlung und Rehabilitation verbesserten. Welcher Mechanismus der Methode aber im Detail zugrunde liegt, blieb jedoch bisher unklar.

Neu organisierte Schaltkreise

Wichtige Fragen konnte das Team nun durch Tierversuche beantworten. Erst nutzte es einen Computeralgorithmus mit dem Namen "Augur" und identifizierte Nervenzellen, welche sich durch Rückenmarkverletzungen und Elektrobehandlung verändern. Außerdem erstellten die Forschenden mithilfe von Mausversuchen eine Art Karte der Genaktivität (genauer: Genexpression) in diversen Nervenzellen im Rückenmark.

Neun Personen konnten mit unterschiedlichen Gehhilfen und den Elektroden-Implantaten wieder (besser) gehen.
Foto: NeuroRestore / Jimmy Ravier

Durch die Kombination rückten konkrete stimulierende Neuronen in den Fokus der Fachleute. Sie stellten fest, dass diese Nervenzellen überraschenderweise eigentlich gar nicht zum Gehen vonnöten sind, wenn ein Individuum keine Rückenmarksverletzung hat. Bei der Anwendung der Implantate und der Stimulation dürfte ihnen allerdings eine wichtige Rolle zuteilwerden. Es sieht also aus, als würden sich die Schaltkreise neu organisieren, um die Bewegungen wieder zuzulassen.

"Großer Schritt nach vorne"

Noch sind längst nicht alle Unklarheiten beseitigt, betonen die Fachleute: Auch andere Nervenzellen, die sich in Rückenmark und Gehirn befinden, tragen zur Wiederherstellung der Gehfähigkeit bei. Dies soll in weiterführenden Studien untersucht werden. In einem Begleitkommentar sind die nicht an der Arbeit beteiligten Neurobiologen Kee Wui Huang und Eiman Azim vom Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla dennoch der Ansicht, dass es sich um einen "großen Schritt nach vorne" handelt.

So sprächen die Ergebnisse ganz allgemein für das Konzept, dass bestimmte Rückenmarksneuronen wieder "aufgeweckt" werden können, obwohl sie ihren Kontakt zum Gehirn verloren haben, wenn sie die richtige Kombination an Stimulation und Rehabilitierung erhalten. "Ein überraschendes Ergebnis der Studie ist, dass die Elektrostimulation mit einer allgemeinen Abnahme der Nervenaktivität im Rückenmark zusammenhängt", schreiben Huang und Azim. Dies deute darauf hin, dass zum Prozess der Genesung auch das Hemmen von Nervenzellen gehört. Die Entwicklung von Werkzeugen, um bestimmte Zelltypen im Nervensystem anzusteuern, sorge jedenfalls mit dafür, dass gezielte Behandlungen von Wirbelsäulenverletzungen immer vielversprechender werden. (sic, 9.11.2022)