Ein Eisfluss im Nordosten Grönlands, einer der unwirtlichsten Gegenden des Planeten. Die Eismassen fließen dort schneller ab als befürchtet.
Shfaqat Abbas Khan, TDU

London – Grönland ist von einem riesigen, knapp 1,8 Millionen Quadratkilometer großen Eispanzer bedeckt, der bis zu drei Kilometer dick ist. Würden diese gigantischen Eismassen völlig abschmelzen, stiege der Meeresspiegel um bis zu sieben Meter. Das ist ein apokalyptisches Horrorszenario, das in weiter Ferne liegt. Dennoch: Die Aussichten bis zum Jahr 2100 sahen auch schon einmal deutlich besser aus.

Erst im August errechnete ein dänisches Forschungsteam, was mit dem Grönländischen Eisschild bis zum Ende des 21. Jahrhundert passiert, wenn die CO2-Konzentration in der Atmosphäre von jetzt an nicht mehr zunehmen würde. Wie das Team im Fachblatt "Nature Climate Change" berichtete, würden bis zum Jahr 2100 3,3 Prozent des Eises abschmelzen, was den Meeresspiegel um 27 Zentimeter ansteigen ließe. Eine gleichbleibende CO2-Konzentration ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt freilich völlige Utopie und wird auch in den optimistischsten Szenarien des IPCC nicht einmal erwähnt.

13,5 bis 15,5 Millimeter zusätzlich bis 2100

Ein internationales Team von Fachleuten um Shfaqat Abbas Khan (Dänemarks Technische Universität) berichtet im Fachjournal "Nature" über neue Erkenntnisse, die diese ungünstigen Prognosen weiter stützen. Laut ihren Berechnungen dürften Grönlands nordöstliche Gletscher, die rund 15 Prozent des Eisschilds von Grönland ausmachen, in den nächsten rund 80 Jahren sogar bis zu sechsmal mehr Eis verlieren als bisher gedacht.

Für ihre neue Studie ermittelten die Fachleute ganz konkret, dass bis zum Jahr 2100 allein diese Gletscherfläche zwischen 13,5 und 15,5 Millimeter mehr zum Meeresspiegelanstieg beitragen wird, als bisherige Prognosen vorsahen. Das klingt nach ziemlich wenig, ist aber ziemlich viel, wenn in Betracht gezogen wird, dass die Gletscher in Nordostgrönland erstens nur einen kleinen Teil der Eismassen der arktischen Insel ausmachen. Zweitens ist dieser Mehrwert von rund 1,5 Zentimetern in etwa der Beitrag des gesamten Grönländischen Eisschilds zum Anstieg des Meeresspiegels in den vergangenen 50 Jahren.

Eisverlust im Inselinneren

Warum aber verschätzten sich die Fachleute bisher so stark? Das liegt zum einen daran, dass diese Gegend zu den unwirtlichsten des Planeten zählt. Und zum anderen wurde zuvor vor allem der Eismasseverlust in den Küstenregionen untersucht. Die neue Studie hingegen basiert auf präzisen Daten, die von einem Netz an GPS-Stationen gesammelt wurden, die bis zu 200 Kilometer ins Landesinnere des nordostgrönländischen Eisstroms reichen. Diese GPS-Daten wurden mit Höhendaten der Satellitenmission CryoSat-2 und hochauflösender Modellierung kombiniert. Dabei zeigte sich, dass der Eisverlust im Inneren der Insel viel größer ist als bisher gedacht.

Grafik: Sylvie Husson / AFP

Die Fachleute befürchten, dass ihre Beobachtungen nicht nur für Nordostgrönland, sondern auch für andere Bereiche der riesigen Insel gelten. Sollte das zutreffen, dann müssen aber auch die IPCC-Prognosen zum Meeresspiegelanstieg bis zum Ende des Jahrhunderts nach oben korrigiert werden. Im günstigsten Fall liegen diese aktuell bei 26 Zentimetern und im ungünstigsten bei knapp einem Meter. (tasch, 9.11.2022)