Russland hat am Mittwoch seinen Abzug aus Cherson angekündigt. Zuvor waren mehr als 100.000 Menschen evakuiert worden, Kiew spricht von bewusster Absiedelung der dort lebenden Menschen.

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Schon einige Zeit mehrten sich die Anzeichen, bisher aber waren sowohl die Ukraine als auch der Westen nicht sicher, ob es sich nicht um eine Falle handle. Nun scheint klar: Russland zieht sich tatsächlich von der rechten Seite des Flusses Dnepr zurück. Damit verlassen die Truppen des Kreml auch die Provinzhauptstadt Cherson. Es ist die Einzige, die Russland seit Beginn des völkerrechtswidrigen Krieges kontrolliert hatte, die Offensive im Süden der Ukraine hatte bisher als einziger relativ erfolgreicher Teil des Angriffes gegolten.

In Kiew glaubte man der Ankündigung zunächst nicht so recht: Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagte, solange die ukrainische Flagge nicht über Cherson wehe, könnte man nicht von einem russischen Rückzug sprechen. Er verwies auch darauf, dass Russland zuletzt weitere Truppen in die Region gebracht habe. Zuvor hatte Russlands General Sergej Surowikin, der den Einsatz in der Ukraine leitet, die Evakuierung von 115.000 Menschen aus dem Gebiet in der Flussmündung bekanntgegeben. Der Kreml argumentierte damit, dass man die Sicherheit der Menschen nicht garantieren könne. Kiew wirft Russland hingegen vor, die Bewohnerinnen und Bewohner widerrechtlich in von russischen Truppen kontrolliertes Gebiet gebracht zu haben.

Verstärkungen und Rückzug

Der russische Rückzug, so er sich bewahrheitet, ist Folge einer Offensive, die ukrainische Truppen unter großen Blutzoll zum Ende des Sommers gestartet hatten. Sie hatten unter anderem die Versorgung der Stadt gestoppt, indem sie die verbleibenden Brücken über den Fluss zerstört hatten. Cherson war damit nur noch mit Fähren von der anderen, russisch kontrollierten Seite des Dnepr erreichbar. Diese Versorgungsprobleme nannte Surowikin nun auch als Grund für den Rückzug aus dem Gebiet.

Schon in den vergangenen Tagen hatten russische Truppen in der Gegend unterschiedliche Signale in Sachen Cherson abgegeben. Einerseits waren mehrere Checkpoints rund um die Stadt schon seit Tagen unbesetzt, auch auf dem größten Verwaltungsgebäude von Cherson war die russische Flagge schon vor geraumer Zeit eingezogen worden. Andererseits hatte es geheißen, Russland schicke weiterhin Verstärkungen in die Stadt.

Ein Autounfall

Unsicherheit hatte es auch um den Zustand eines großen, flussaufwärts gelegenen Dammes gegeben. Kiew und Moskau warfen einander seit Tagen vor, die Flusssperre zerstören zu wollen, um damit das Gebiet rund um Cherson zu fluten. Die Sorge, es könne sich beim russischen Rückzug nun um eine Falle handeln, bleibt daher in ukrainischen Verteidigungskreisen auch vorerst weiterhin bestehen.

Sollten sich die Dinge so bewahrheiten, wie Moskau sie am Mittwoch verkündet hatte, wäre es nach dem Rückzug aus dem nördlichen Gebiet rund um die Stadt Charkiw eine weitere massive taktische Niederlage für den Kreml. Allerdings ermöglicht dies Russland auch, die sonstigen Eroberungen im Osten der Ukraine weiter zu festigen – nicht nur mit jenen schlecht ausgebildeten Truppen, die sich durch die Teilmobilmachung des Kremls dort zuletzt gesammelt haben, sondern auch mit den wesentlich besser ausgebildeten Kampfgruppen, die sich nun aus Cherson zurückziehen. Der Fluss Dnepr selbst wird nun außerdem auch für die ukrainische Armee ein Hindernis bei weiteren Versuchen zur Rückeroberung von Territorium darstellen.

Schwierige Lage

Kurz vor der Bekanntgabe des Rückzugs hatte Russland eine andere Meldung bekanntgegeben, die im Rückblick als Vorankündigung gesehen werden kann. Kirill Stremusow, Vizeverwaltungschef der Region, sei am Mittwoch "bei einem Verkehrsunfall" gestorben, teilten Vertreter der Militärverwaltung mit.

Trotz der absehbaren Fortschritte an der Front hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Lage in der Nacht noch als "schwierig" beschrieben – insbesondere rund um das von Russland eroberte Gebiet Donezk. (Manuel Escher, 9.11.2022)