Die Irin Oona Doherty tanzt gegen soziale und klimatische Ungerechtigkeit an.

Foto: LUCA TRUFFARELLI

Literarisch hat Irland mit James Joyce, Samuel Beckett oder Oscar Wilde den westlichen kulturellen Kanon maßgeblich mitgeprägt. Auch musikalisch schickt die eigenwillige Insel von Thin Lizzy über die Cranberries bis zu U2 etliche Größen in die Welt. Außerdem ist Halloween ein irischer Export und der Stepptanz auch. Dazu kommt jetzt endlich auch der zeitgenössische Tanz – beispielsweise von der Art, wie ihn die Belfasterin Oona Doherty umsetzt. Was diese auszeichnet, wird am kommenden Freitag im Festspielhaus St. Pölten gezeigt.

Dohertys aktuelles Stück "Navy Blue" war im August der Eröffnungsakt des Hamburger Sommerfestivals im Kulturzentrum Kampnagel. Dort ließ sich das ansonsten eher kühle norddeutsche Publikum von der Uraufführung begeistern. Und das, obwohl diese erste große Gruppenarbeit der 2021 mit dem Silbernen Löwen der Biennale di Venezia ausgezeichneten Choreografin alles andere als lustig daherkommt. Die passende Musik zum Tanz ihrer 13-köpfigen Gruppe stammt von Sergei Rachmaninow – das 2. Klavierkonzert op. 18 in c-Moll – und vom britischen Popstar Jamie xx.

Echte Empathie für Krisengebeutelte

Vielleicht trifft die Mutter einer kleinen Tochter die gerade herrschende Stimmung so gut, weil sie das Publikum nicht einfach über die Krise weglächeln lässt und weil sie echte Empathie für jene zeigt, die gerade unter die Räder kommen: Kinder, Alte, Geflüchtete und Leute mit wenig Geld. Oona Dohertys "Navy Blue" ist dunkel und traurig, aber auch poetisch und von dramatischer Schönheit durchzogen. Die Choreografin bringt es fertig, die Wucht der sozialen Krise und des Klimawandels so in ihr Stück einzubringen, dass es trotz aller starken Gefühle und Anteilnahme nicht ins Pathetische oder Pädagogische kippt.

Im Skype-Interview rund einen Monat nach der Premiere erzählt die 36-Jährige, wie sie als Künstlerin ihr soziales Engagement praktiziert: "Vergangenes Jahr habe ich für die englische Menschenrechtsorganisation Fly The Flag einen Film gemacht." Sie extrahierte eine Choreografie für weibliche Teenager mit dem Titel "Sugar Army" aus ihrem Stück "Hard to be soft" (2015) und stellte an mehreren Orten im Vereinigten Königreich Gruppen zusammen, "queere Teenager, geflüchtete und solche vom Land", um mit ihnen zu arbeiten: "Ich rede mit den Mädchen über Feminismus und verbinde das mit dem Krump-Tanzstil." Doherty nutzt die Groteske des expressiven afroamerikanischen Krumping als Mittel der Emanzipation gegenüber flachen Schönheitsstereotypen, wie sie etwa von Instagram verbreitet werden.

Popmusikvideos und Existenzängste

Ihre Verbundenheit mit geringgeschätzten sozialen Gruppen scheint auch in dem Musik- Tanz-Video "Idontknow" auf, das sie 2020 mit Jamie xx gedreht hat und auf Youtube zu sehen ist. Darin stellt sie die Figur eines Vororte-Teenagers dar, die sie ursprünglich für ihr Stück "The Hunter" (2016) mit Blick auf "meinen irischen Vater, ein Arbeiterklassenkind", geschaffen hat: "Meine Eltern stammen aus Belfast und übersiedelten in den 1970er-Jahren nach London, um da zu arbeiten. Mein Bruder und ich wurden in London geboren. Als wir nach Belfast zurückkehrten, war ich zehn."

Jamie xx

Wenn Oona Doherty ihre Tänzerinnen und Tänzer in "Navy Blue" in marineblaue Arbeitermonturen steckt, ist das also nicht die Ästhetik einer bürgerlichen Idealistin, die sich als Sozialistin fühlt, sondern Teil ihrer eigenen sozialen Herkunft und familiären Erfahrung. Sie selbst hält in dem Stück aus dem Off eine poetische Brandrede: Während der Pandemiezeit hatte die damals Schwangere "eine existenzielle Angst" erfasst: "Besonders die Klimakrise gibt dir, wenn du den Lebensweg anschaust, der dich erwartet, eine Austrittskarte. Und wenn du an die Enkel deiner Tochter denkst, wird's noch desaströser."

Wildes Aufbegehren

Schon vor der Pandemie "hat sich ein kapitalistischer Wellenberg aufgebaut. Es ist ein bisschen so wie in Hunter S. Thompsons Buch',Fear and Loathing in Las Vegas' von 1971 und allen diesen Büchern über den Tod des amerikanischen Traums. So fühlt sich zurzeit die ganze Welt an: Sie isst sich selbst auf."

Trotzdem dominiert in "Navy Blue" nicht Resignation, sondern ein wildes Aufbegehren, wenn auch gemischt mit jener Verunsicherung, die heute so viele erfasst hat. Die Zusammenarbeit mit dem Popstar hat das Stück mitgeprägt, sagt Oona Doherty: "Das Ding mit Jamie xx ist, dass er Musik macht, die voll Freude und Hoffnung steckt. Und so musste ich immer wieder sagen: Grauen, Schrecken, es muss schlimmer sein! Aber dann schimmert in der Musik ganz am Ende doch diese Hoffnung auf – und die kommt von Jamie."

Kein Geld, keine Arbeit

"Navy Blue" skizziert eine Geschichte, in deren rauer Poesie Ausreden keinen Platz haben. Der Inhalt wird abstrakter formuliert als üblicherweise in der irischen Choreografie: "Der Unterschied zwischen europäischen und irischen Werken ist, dass wir eingefleischte Tanztheatermacher sind. Das steckt in uns: Geschichtenerzähler zu sein." Aber Oona Doherty wächst über die Insel hinaus: "Kann sein, dass ich nach Frankreich übersiedeln werde, weil es in Nordirland kein Geld und keine Arbeit gibt."

Kleiner Nachsatz, mit einem Lachen: "Und dann mache ich als Erstes ein richtig irisches Stück. Ganz klassisch, wie irische Schriftsteller nach Paris gehen und als Erstes über Irland schreiben. Ich werde dann Arbeiten über Irland machen, weil ich es vermisse – und zugleich hasse." (Helmut Ploebst, 10.11.2022)