Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen will die Höhe möglicher Strafzahlungen senken, damit die Schwelle sinkt, diese Strafen auszusprechen.

Foto: APA/AFP/VALERIA MONGELLI

Die Materie ist so komplex geworden, dass es nur noch zwei Beamte bei der EU-Kommission gibt, die wissen, wann welche EU-Schuldenregeln anzuwenden sind. Dieser Witz aus dem Finanzministerium in Wien sagt einiges aus über die Wahrnehmung des zentralen Regelwerks zur Überwachung der Finanzpolitik der EU-Staaten. Es gibt so viele Vorgaben und Ausnahmen davon, dass die Schuldenregeln selbst für Expertinnen und Experten nicht überblickbar sind.

Dazu kommt, dass die Regeln auf dem Papier zwar streng sind, aber in der Praxis wenig bewirken: Griechenlands und Italiens hohe Schuldenberge sind mit den Vorschriften nur mit viel Fantasie in Einklang zu bringen.

Die EU-Kommission will gegensteuern und schlägt daher eine Komplettreform der Regeln vor. Statt unzähliger Vorgaben soll wieder eine einzige, nachvollziehbare Kennzahl in den Fokus rücken. Staaten wie Italien oder Griechenland sollen im neuen System weiter verpflichtet werden, ihre Schuldenberge abzutragen. Aber sie sollen das eigenverantwortlicher als bisher tun. Bei all dem will sich die Kommission mehr Einfluss in dem Prozess sichern, weshalb Ökonom Philipp Heimberger vom Wiener Institut Wiiw davon spricht, dass die Kommission zu einem neuen Währungsfonds in Europa werden wolle – auch viele Staaten macht das skeptisch.

"Korrektiver Arm"

Konkret will die Brüsseler Behörde den Stabilitäts- und Wachstumspakt umschreiben, wie EU-Kommissar Valdis Dombrovskis am Mittwoch skizzierte. Dieser Pakt schreibt vor, dass EU-Mitgliedsländer Schulden unterhalb des Werts halten sollen, der 60 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung (BIP) entspricht. Die Neuverschuldung, das Defizit, soll nicht über drei Prozent liegen. Im Zuge der Finanzkrise wurden die Regeln massiv erweitert. Der Wachstumspakt hat einen "korrektiven Arm" mit Vorgaben für Staaten, deren Budgetsituation sehr schlecht ist. Dazu kam ein "präventiver Arm" für jene Länder, die in keiner Schuldenkrise sind. Auch für diese Staaten, wie etwa Österreich, gab es unzählige Vorgaben, besonders die Kennzahl "strukturelles Defizit" (siehe Wissen) wurde wichtig.

Dann gilt die 1/20-Regel: Sind Länder mit über 60 Prozent ihres BIP verschuldet, müssen sie pro Jahr 1/20 des Überhangs abtragen.

Das soll nun fallen, auch die übrigen Vorgaben verlieren an Bedeutung. Künftig soll jedes Land mit der Kommission einen Vierjahresplan ausverhandeln. In diesem Plan soll festgelegt werden, wie hoch die Ausgaben des Landes sein können. Das ist die neue zentrale Kennziffer.

Die neue Kennzahl

Dabei werden bestimmte, potenziell stark schwankende Ausgaben nicht berücksichtigt wie Zinszahlungen an Gläubiger oder Ausgaben wegen höherer Arbeitslosigkeit. Künftig will die Kommission überwachen, ob diese Ausgabenobergrenze eingehalten wird. Dabei spielt die 60-Prozent-Schuldengrenze weiter eine Rolle, sie zu erreichen, wird angepeilt, aber ohne Automatismus. Das Drei-Prozent-Defizit muss über einen Zeitraum von zehn Jahren eingehalten werden, einzelne Ausreißer wären also nicht sofort ein Problem.

Die EU-Kommission will auf Basis einer Analyse zur Schuldentragfähigkeit die Länder in drei Gruppen einteilen, in Staaten mit markanter und moderater Überschuldung, sowie in jene, die kein Problem haben. Je nachdem, in welche Gruppe ein Land kommt, gibt es dann mehr oder weniger umfassende und strenge Vorgaben bei den Ausgaben. Genau das werte die Rolle der Brüsseler Behörde auf, wie Ökonom Heimberger sagt. Denn die Einteilung der Länder nach einer Analyse ihrer Schuldentragfähigkeit klingt zwar sehr wissenschaftlich. Das Ergebnis hängt aber stark von den getroffenen Annahmen hinter der Berechnung ab, etwa zum künftigen Wirtschaftswachstum oder zur Zinsentwicklung.

Auch Länder wie Österreich und Deutschland sind deshalb skeptisch: Sie haben wenig Vertrauen in die Kommission, dass sie künftig hart durchgreift, wenn einzelne große Länder wie Italien Vorgaben ignorieren.

Skepsis gibt es aber auch in Südeuropa bei dem Vorschlag. Denn die aktuellen Regelungen sind bisher oft ignoriert worden. So ist derzeit vorgesehen, dass Staaten, die Vorgaben nicht einhalten, hoch gestraft werden können. In der Praxis ist das noch nie vorgekommen. In der Pandemie wurden die Regeln überhaupt komplett ausgesetzt, sie sollen erst ab 2024 wieder greifen. Was, wenn die Kommission den Job nun ernster nimmt?

Denken in "arbiträren Zielwerten"

Das alte System zu ersetzen, findet Heimberger richtig. Er kritisiert aber, dass die Kommission "das Denken in arbiträren Zielwerten beibehält". Gemeint sind damit die Schwellenwerte von 60 und drei Prozent. Dass höher verschuldete Staaten wirtschaftlich schlechter dastehen, ist unbelegt.

Bei der Berechnung der Ausgabenobergrenzen gibt es keine Ausnahmen für Investitionen in Klimaschutz oder für Digitalisierung. Aber Länder, die solche Ausgaben tätigen, können sich mehr Zeit ausbedingen, um ihre Schuldenzielwerte zu erreichen.

Neu geregelt werden sollen auch die Sanktionen für Staaten. Hier bleibt die Kommission vage. Sie will die Höhe möglicher Strafzahlungen senken, damit die Schwelle sinkt, diese Strafen auszusprechen. Nun wird über den Vorschlag zwischen Kommission und EU-Ländern verhandelt, bei einigen Vorschlägen müssen alle Staaten mitziehen, bei anderen reicht eine Mehrheit. (András Szigetvari, 9.11.2022)