Seit Wochen gab es Anzeichen, seit Mittwoch auch die offizielle Bestätigung, dass sich die russischen Besatzungstruppen auf die Ostseite des Flusses Dnjepr zurück- und aus Cherson abziehen. Ein zerknirscht wirkender Verteidigungsminister Sergej Schoigu wurde darüber im Staatsfernsehen von General Sergej Surowikin instruiert. Russlands Präsident Wladimir Putin äußerte sich bisher nicht zu dem Abzug.

Frage: Ist das jetzt ein echter Abzug?

Antwort: Ja, derzeit schaut alles danach aus, dass die russischen Truppen tatsächlich das Westufer des Dnjepr verlassen. Dass es sich – wie oftmals vermutet – um eine Falle der Russen handelt, gilt wohl als unwahrscheinlich. Die ukrainische Seite bleibt dennoch vorsichtig, und auch der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sprach davon, dass man sich dessen erst sicher sein könne, wenn die ukrainische Flagge wieder über Cherson weht. Er befürchtet darüber hinaus, dass Russland Cherson in eine "Stadt des Todes" verwandeln werde, indem Wohnungen, Abwasserkanäle und große Teile der Stadt vermint wurden. Er rechnet zudem mit Artilleriebeschuss vom östlichen Ufer des Dnjepr.

Prinzipiell dürfte sich der Rückzug über mehrere Tage erstrecken, glauben britische Geheimdienste, wobei die abziehenden Truppen durch Verteidigungsstellungen und Artilleriefeuer geschützt werden. Bis zu 30.000 Mann sollen es sein. Das Vorrücken ukrainischer Streitkräfte könnte durch die Sprengung letzter verbleibender Brücken zudem verlangsamt bzw. aufgehalten werden.

Frage: Warum ist der Rückzug aus Cherson symbolisch so bedeutend?

Antwort: Cherson ist die einzige Provinzhauptstadt, die die Russen seit einem Dreivierteljahr, seit dem Beginn des Krieges, erobern konnten. Viele Analysten sagen gar, die Eroberung Chersons sei bisher der einzig richtige Erfolg gewesen, den die russische Armee in diesem Krieg feiern konnte. Die symbolische Bedeutung macht auch die Tatsache klar, dass russische Besatzer zu Beginn der Invasion Transparente anbringen ließen, auf denen Cherson als "für immer russisch" bezeichnet wurde. Was für immer währen sollte, hielt am Ende nicht einmal ein Jahr – ein symbolisch niederschmetternder Verlust für die russische Armee.

Frage: Welche strategische Bedeutung hat die Stadt an der Flussmündung zum Schwarzen Meer?

Antwort: Die mit 29. August gestartete Gegenoffensive der Ukraine stößt nicht immer in rasantem Tempo, letzten Endes aber doch kontinuierlich vor. Dass die ukrainische Armee neben den vielen kleineren und mittelgroßen Erfolgen, die sie anfangs vor allem im Nordosten feiern konnte, nun auch große Erfolge wie die Rückeroberung der Großstadt Cherson erzielen kann, dürfte nicht nur die Moral der Truppe immens beflügeln. Auch westliche Partner, die die Ukraine mit Waffen, Munition und schwerem Gerät versorgen, dürften dadurch bestärkt werden, dass die Lieferungen auf dem Schlachtfeld einen entscheidenden Unterschied machen. "Es ist der Beweis, dass sie einige wirkliche Probleme haben – das russische Militär", sagte etwa der Befehlshaber des größten militärischen Partners der Ukraine, US-Präsident Joe Biden, am Mittwochabend.

Zurückgelassene russische Stellungen nahe Cherson.
Foto: IMAGO/Daniel Ceng Shou-Yi

Dazu kommt, dass mit der Rückeroberung Chersons die ukrainische Armee wieder um einige Kilometer näher an die russisch besetzte und annektierte Krim heranrückt. Die kürzere Distanz zur Landbrücke bedeutet freilich auch, dass Versorgungswege, drei Straßenverbindungen auf die Krim bzw. von dort kommend wieder in Artilleriereichweite der ukrainischen Armee rücken. Vor allem auch für die ukrainische Hafenstadt Odessa wird der russische Rückzug eine Erleichterung darstellen, da sie nicht mehr so leicht beschossen werden kann. Eine Eroberung Odessas schließen britische Geheimdienste durch den Rückzug mittlerweile überhaupt aus. Dennoch könnte der Rückzug Russlands Verteidigung festigen.

Video: Nach dem angekündigten Rückzug russischer Truppen aus der Region Cherson herrscht auf ukrainischer Seite Misstrauen. "Wir sind sehr vorsichtig", so der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Auch die Menschen auf den Straßen Kiews reagieren verhalten.
DER STANDARD

Frage: Ist der Abzug am Ende vielleicht also sogar schlau?

Antwort: Aus strategischer Sicht ist ein Rückzug vor dem Winter durchaus sinnvoll. Die ohnehin ausgedünnten russischen Truppen – US-Schätzungen zufolge könnten auf beiden Seiten bis zu 100.000 Mann gefallen bzw. verletzt worden sein –, die mit der Teilmobilisierung schon nachbesetzt werden mussten, können sich keine weiteren großen Verluste mehr leisten. So aber konnten die verbleibenden Truppen großteils unbeschadet abziehen.

Bei einem geplanten Abzug werden auch weit weniger militärische Geräte zurückgelassen oder bleiben im Herbstschlamm stecken, als dies bei einem hektischen Abzug oftmals der Fall ist. Und prinzipiell bietet der strategische Rückzug einige militärtaktische Vorteile: Verteidigen ist etwa leichter als angreifen. Ein Fluss, vor allem eine recht breite Wasserstraße wie der Dnjepr, ist sowieso ein gewaltiger Schutz – noch mehr, wenn die Verbindungsbrücken fehlen. Panzer und Truppen müssten unter großem Aufwand und Dauerbeschuss auf die andere Uferseite gebracht werden, wofür es wohl auch einer Lufthoheit durch die Streitkräfte bedürfe – aktuell eine wohl unlösbare Aufgabe für die Ukraine.

Frage: Ist das nun also der Anfang vom Ende des Krieges?

Antwort: Das zu behaupten wäre wohl verfrüht. Der freiwillige Rückzug ist politisch eine immense Niederlage für die russische Seite, Putin und sein Regime. Eine vernichtende militärische Niederlage in Cherson, wie sie von zahlreichen Experten vorausgesagt wurde, wäre für Putin aber eine noch bitterere Pille. So können die Militärs aber zumindest so tun, als wäre ihnen der Schutz der eigenen Truppen doch irgendwie wichtig, wie es hochrangige Militärs aufgrund der hohen Verluste beinahe schon zynisch darzustellen versuchten. Da sich beide Seiten durch die ausbleibende Schlacht in Cherson Ressourcen sparen, könnte der Rückzug den Krieg sogar verlängern.

Frage: Macht der Abzug einen Frieden bzw. einen Waffenstillstand wahrscheinlicher?

Antwort: Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa hatte am Mittwoch mit der angeblichen russischen Bereitschaft, aufgrund "aktueller Realitäten" in Verhandlungen einzutreten, aufhorchen lassen. Von Kiew wurde dies jedoch nur als neuerliche "Nebelgranate" zurückgewiesen. Russische Beamte würden immer dann Verhandlungsvorschläge unterbreiten, "wenn russische Truppen Niederlagen auf dem Schlachtfeld erleiden", schrieb etwa der ukrainische Außenamtssprecher Oleh Nikolenko auf Facebook. Russland spiele lediglich auf Zeit, um seine Truppen neu zu sortieren und zu verstärken und um dann "neue Wellen der Aggression" einzuleiten, so Nikolenko.

Tatsächlich scheinen die jeweiligen Maximalforderungen für die politischen Spitzen beider Seiten nicht erfüllbar. Russland fordert etwa die Legitimierung völkerrechtlich unrechtmäßiger Gebietsgewinne, Selenskyj den völkerrechtsmäßig gedeckten Abzug aller russischen Besatzungstruppen sowie die Rückgabe der Krim. Dass Putin sein Prestigeprojekt aufgibt, scheint unwahrscheinlich.

Ob die Zeit für Friedensverhandlungen schon gekommen ist, ist noch unklar. In der Geschichte ging solchen Verhandlungen meist eine klare militärische Niederlage einer der Kriegsparteien voraus. Klar ist aber, dass jeder Quadratkilometer, den russische Truppen in der Ukraine nicht länger besetzt halten, ein Schritt in die richtige Richtung ist. Russland hält trotz des (un)freiwilligen Rückzugs aber immer noch rund 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebietes illegal besetzt. (Fabian Sommavilla, 10.11.2022)