Cancel-Culture ist kein neues Phänomen, genauso wie der Diskurs darüber. Adrian Daub will verstehen, warum uns diese "alten Gespenster" verfolgen.

Foto: Cynthia Newberry

"Wenn ich ein Wort gebrauche", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, "dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nichtmehr und nicht weniger."
"Es fragt sich nur", sagte Alice, "ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann."

"Es fragt sich nur", sagte Goggelmoggel, "wer der Stärkere ist, weiter nichts."
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln (1871)

Die Angst vor Cancel-Culture hat uns erfasst, eine alte Angst in einem neuen Gewand. Wie viele alte Ängste (und wie viele unserer neuen Gewänder) kommt diese Furcht aus den USA. Harper’s Magazine druckte im Oktober 2020 einen offenen Brief, in dem zahlreiche Intellektuelle und Künstler:innen klagten: "Der freie Austausch von Informationen und Ideen, das Lebenselixier liberaler Gesellschaften, wird mit jedem Tag weiter eingeschränkt." Die ehrwürdige New York Times (NYT) fürchtet um die Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten und berichtet von einer "Last", die im Alltagsleben der USA auf ihr liege. "Keiner – unabhängig von Alter und Beruf – ist sicher", so das liberale Magazin The Atlantic. Slavoj Žižek bezeichnet die "Auferlegung neuer Verbote und Regeln" als "Pseudoaktivität, vermittels derer man sicherstellt, dass sich wirklich nichts ändert, indem man vorgibt, hektisch zu handeln". Gavin Williamson, unter Boris Johnson Bildungsminister des Vereinigten Königreichs, wollte Cancel-Culture per Gesetz verbieten. Lapidarer formulierte es Elon Musk auf Twitter: "Cancel Cancel Culture!"

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) fühlt sich an die chinesische Kulturrevolution erinnert. DerSpiegel weiß zu berichten, dass in den USA "im Wochentakt Professoren ins Visier eines erregungsbereiten Internetmobs geraten". Auch in Deutschland sieht DieWelt "die Stunde der Denunzianten und Zensoren" gekommen: "Viele Deutsche haben das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen. Tatsächlich werden Menschen daran gehindert, sich zu äußern – von Radikalen, ob in Lehrsälen oder im Internet."

Internationaler Exportschlager

Im Präsidentschaftswahlkampf 2020 entdeckte Donald Trump das Thema für sich. Vor dem klassisch amerikanischen Postkartenmotiv des Mount Rushmore warnte er in einer Rede anlässlich der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli, Cancel-Culture "sei die Definition von Totalitarismus", sie sei "unserer Kultur und unseren Werten völlig fremd". Sie habe "absolut keinen Platz in den Vereinigten Staaten von Amerika". Sie sei eine "politische Waffe", mit der das Ziel verfolgt werde, "Menschen von ihren Arbeitsplätzen zu vertreiben, Andersdenkende zu beschämen und von jedem, der anderer Meinung ist, völlige Unterwerfung zu verlangen".

Dieser Diskurs, der einmal so uramerikanisch war wie eine Rede am 4. Juli am Mount Rushmore: Er hat sich längst zum internationalen Exportschlager entwickelt. Im Oktober 2021 hielt Wladimir Putin als Teil der Drohkulisse im Zuge der Vorbereitungen zum Krieg gegen die Ukraine eine Rede beim Valdai-Diskussionsforum in Sotschi. Dort griff er die Stornierungskultur an. Diese sei ein gefährlicher westlicher Import, mit dem Russland geknebelt und geknechtet werden solle. 2022 dann, während Bomben auf Kiew fielen, verglich Putin die Reaktion des Westens gegenüber Russland mit dem Schicksal der Harry Potter-Autorin J. K. Rowling. Papst Franziskus warnte Anfang des Jahres 2022 vor der Cancel-Culture als "eine[r] Form der ideologischen Kolonisierung, die keinen Raum für Meinungsfreiheit lässt". Harry Potter erwähnte er leider nicht.

Auch in der Alten Welt hat man Angst vor den Canceler:innen, gerade weil sie angeblich amerikanische Verhältnisse nach Europa einschleppen. Die deutschsprachige Presse hat sich früh für den Begriff "Cancel-Culture" interessiert. Er ist in Deutschland vor allem ein Medienbegriff geblieben. Seit 2019 findet sich "Cancel-Culture" in tausenden Artikeln in deutschsprachigen Zeitungen, von der Heilbronner Stimme bis zum Düsseldorfer Handelsblatt. Mindestens 120 Artikel widmete allein die NZZ dem Thema, im Spiegel tauchte der Ausdruck in fast 200 Artikeln auf. Der Philosoph Richard David Precht charakterisiert Cancel-Culture als Teil einer "offensichtlichen Wertverschiebung der Linken" – nach dem Ende des klassischen Marxismus fordere die Linke "heute die uneingeschränkte Deutungsmacht über den Menschen: seine Sprache, seinen Charakter, seinen Körper und seine Sexualität". Precht sieht in den Debatten um "Gender und Transgender, drittes Geschlecht und Cancel-Culture" einen "neue[n], divers gefüllte[n] autoritäre[n] Moralismus".

Seit 2020 warnt das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit vor der Cancel-Culture, das Jahrbuch für Meinungsfreiheit widmet sich ihr ebenso wie die 2020 ins Leben gerufene Buchreihe "Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses". Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in großen Tageszeitungen wird munter über linksidentitäre "Shitstorms" und "Wokeness" debattiert und gefragt: "Wie selbstgerecht sind die Linken?"

Adrian Daub, "Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst". € 20,– / 371 S. Edition Suhrkamp, Berlin.
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Selektive Argumentation

Dieses Buch ist Ausdruck meiner Sorge, dass oft selektiv und partiell argumentiert wird, wenn von Cancel-Culture die Rede ist. Aus wichtigen gesellschaftlichen Verschiebungen, auf die wir dringend Antworten benötigen, werden bestimmte Strömungen, Tendenzen und Einzelfälle herausgepickt und andere geflissentlich ignoriert. Im Endeffekt haben wir es nicht mit hilfreichen Lösungsansätzen zu tun, wenn vor Cancel-Culture gewarnt wird, sondern eher mit einer moralischen Panik. Diese hängt vor allem mit dem zusammen, was ich Aufmerksamkeitsökonomie nennen werde: Man redet über Cancel-Culture, um nicht über anderes reden zu müssen, um bestimmte Diskurse, Positionen und Autoritäten zu legitimieren und andere zu delegitimieren. Das Problem am Diskurs um Cancel-Culture ist, dass er reale Probleme in einer Art Jahrmarktspiegel verzerrt. Winston Churchill wird der Satz zugeschrieben: "Ein Fanatiker ist jemand, der seine Meinung nicht ändern kann und das Thema nicht wechseln will." Es geht mir nicht darum, jene, die gerne noch den nächsten und übernächsten Artikel schreiben würden über das, was sie alles angeblich nicht mehr sagen dürfen, von meiner Meinung zu überzeugen. Diese 371 Seiten sind ein Versuch, sie dazu zu ermuntern, zumindest das Thema zu wechseln.

Aber auch dieser Versuch hat seine Geschichte, die hier nicht verschwiegen werden soll. "Ein Gespenst geht um in Europa", so beginnt der Klappentext dieses Buches. Ein Zitat, ursprünglich ein Marx-Zitat, aber – wie ich während der Arbeit an diesem Buch merken musste – mittlerweile weitaus mehr als das. Wenn ein anderer berühmter Satz von Marx wahr ist und sich "alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen" zwei Mal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce, dann hat sich das Zitat vom umgehenden Gespenst längst von aller tragischen Schwerkraft gelöst und stößt in die unendlichen Weiten der Farce vor.

1992 notierte Dietrich Diederichsen in einem Text zur politischen Korrektheit: "Ein Gespenst geht mal wieder um." 1995 beschrieb Michael Bonder einen konservativen Diskurs über Political Correctness, vermittels dessen "der ewige Kampf gegen die Kommunisten umgemünzt" werden konnte – der Titel, Sie ahnen es: Ein Gespenst geht um die Welt. Und in einer Metageste schrieb Marc Fabian Erdl 2014 ein Buch über Das Gespenst der politischen Korrektheit.

Altbekannte Ängste

Das Sprachspiel um "Diskurspolizisten", "Tugendterror" und "Moralkollektivierung": Es wiederholt sich, es rotiert, es tritt seit 30 Jahren auf der Stelle. Aber auch der Diskurs, der es entlarvt, klingt seit über 30 Jahren gleich. Beide Seiten sind vereint in ihrer Ermüdung. Wenn es um angebliche Denk-, Rede- und Auftrittsverbote, um Diskursrinnen und Tugendwächter:innen geht, sind wir – ob Anti-PC-Panikmacher:innen oder Anti-Panikmache-Abwiegler:innen – die Gespenster, die umgehen. Wie der von Jack Nicholson gespielte Jack Torrance in Stanley Kubricks The Shining, dem der angebliche Hausverwalter Delbert Grady sagt, dass eigentlich er "immer schon der Hausverwalter" gewesen sei, sind wir Geister älterer Diskurse, sobald wir uns in die Untiefen dieses Diskurses begeben. Lebten Adorno und Horkheimer laut Georg Lukács noch im Grand Hotel Abgrund: Wir leben im Overlook Hotel, und wir sind immer schon sein Hausverwalter gewesen.

Jede Analyse des Diskurses um Cancel-Culture muss diese Tatsache zumindest mitdenken: Es handelt sich um eine Neubeschreibung altbekannter Ängste, um eingeübte diskursive Kniffe. Ängste und Kniffe, die allerdings Mal ums Mal als neu, als präzedenzlos, als plötzlich erfahren werden. "Bedenkt: der Teufel, der ist alt", sagt Mephisto in Goethes Faust. "So werdet alt, ihn zu verstehen." Dieses Buch will zweierlei: alt werden, um diese alten Gespenster zu verstehen. Und die seltsame Amnesie begreifen, vermittels derer alte Gespenster uns mit schöner Regelmäßigkeit erneut erschrecken können. Was sagt die Tatsache, dass diese moralische Panik es schafft, erneut die Welt zu erobern, über unsere Gegenwart aus? Über die neuen Herausforderungen einer globalisierten, digitalisierten Welt und die sehr alten Reflexe, mit denen wir ihnen begegnen? (Adrian Daub, 15.11.2022)