Bittere Erinnerung an die Kindheit: Holodomor-Statue in Kiew.

Foto: imago images/Ukrinform

Wie alt sind Sie? Eine nicht selten gestellte Frage, oder die andere: Was sind Sie für ein Jahrgang? Eine Jahrgängerin der späten Geburt, mit dem Glück, nicht direkt der Nazivergiftung samt Vernichtungskrieg anheimgefallen zu sein, wenn sich auch der Vergiftungsmief lange gehalten hat (und nicht selten auch heute zu atmen ist).

Kindheit unter russischer Besatzung

Dazu fast zehn Kindheitsjahre unter russischer Besatzung, eine Kindheit, die ich dank unbändiger Lebenswut überlebte, dies in der widerstrebenden Einsicht, dass der, von dem ich ein Foto habe, kein Heimkehrer sein wird. Und mit dem Vater wird wohl auch einer der älteren Brüder kein Heimkehrer sein. Ein Erinnern an sie gab es nicht, als sie gingen, wohl allesamt nazivergiftet, war ich um die zwei.

Und plötzlich stand einer da, ein großer, dünner Erwachsener. Dein Bruder, so die Mutter, war im Russland-Feldzug, ist desertiert, der Onkel hat ihn versteckt gehabt und gesund gepflegt. Jener Onkel, der beim nächtlichen Federnschleißen gern und stolz verlautete, dass seine zwei Söhne, der Josef und dann der Franz, für den Führer gefallen seien, der eine bei der Marine, der andere bei der Luftwaffe.

Deserteurmakel

Den Bruder kümmerte seine Nachzüglerschwester nicht. Er ging mit dem Deserteurmakel einher, er hätte gehen sollen. Gehen. Er blieb und ging zugrunde im Dorf. Die Frage, was hast du in Russland getan, verblieb unbeantwortet. Suizid. Was ab Beginn der Besatzung für uns Kinder nicht überhörbar gewesen war: dass die Frauen "drangekommen" seien, dass kein Tag vergangen sei, an dem die Russen, Ukrainer nicht vergewaltigt hätten. Eine Demütigung, ließ sich später erfahren, die in den Gebieten 60 Prozent der Frauen und Mädchen getroffen habe.

Die Geschichte wiederholt sich. Ein nicht selten zu hörender Satz. Und dazwischen gilt das, was am einfachsten ist, das Verdrängen. Das persönliche Trauma, das wohl jedem einzelnen der älteren Jahrgänge nachhängt. Und dazu dieses: nichts wissen wollen, nichts mehr erinnern, spüren.

Und das kollektive Trauma: dass das 20. Jahrhundert das grausamste aller Zeiten gewesen ist. Ein uns bis heute nachhängender Mief.

Wie lange noch?

Ging um alles und nichts in der Lebensstadt Wien. Aber mag da kommen, was wolle. Und was da nicht alles gekommen ist, das zu über- und zu erleben war. Aber auch immer ein Weg, eine Kraft, eine Aussicht. Und später erst recht, eingebettet in die EU und in befriedete Länder, immer auch im Gedanken an Frieden und Abrüstung. Im Gefühl an ein gutes, stabiles Leben für den lebenstüchtigen Jahrgang, der etliches an Wiederaufbauarbeit geleistet hat, während er die Müllberge wachsen ließ und die Meere versauen.

Und was dazwischen noch den Erwähnungswert hätte? Der Super-GAU Tschernobyl. Der Jugoslawienkrieg. Der Zerfall der Sowjetunion und der Fall etlicher Bürden und Grenzen: Länder und Regionen zur Selbstbestimmung befreit! So auch die Ukraine, wenn auch nicht von der Oligarchie und nicht von zahlreichen stalinistischen Rudimenten.

Archaische Gier

Der Gedanke an den Holodomor zwingt sich auf, einer jener Vernichtungsbefehle Stalins: das Verhungern für Millionen von Menschen, quert man dieses ehemalige Galizien Richtung Lemberg auf durchwegs löchrigen Straßen, während sich die zum Feudalanwesen des Oligarchen als gut asphaltiert zeigt. Daneben die glänzende schwarze Erde, die üppigsten Weizenfelder, der schönste Blütenwucher vor jedem einzelnen Haus.

Putins Hass, seine archaische Gier. Er will die Ukraine. Und lässt sie bombardieren. Er will darüber hinaus. Ein mundtotes Volk à la Stalinismus, allem voran das, der Ukraine, und darüber hinaus. Ein ihm höriges, destabilisiertes, letztlich vergiftetes Volk. Und die nicht selten zitierte russische Seele? Zuckt unentwegt schmerzlich zusammen. Muckt aber nicht auf. Diese von Angst vermiefte russische Seele darf das Gewesene nicht erinnern. Und zum Gegenwärtigen hat sie zu schweigen. An die Zukunft denken! Ein nicht selten zu hörender Satz.

Was für eine Zu...
Putins Angriffskrieg, die Befehle zur Teilmobilmachung, die Lügen, die Scheinreferenden, die brutalen Inhaftierungen protestierender Menschen in Moskau und ...
Und die vollen Seiten in hiesigen Gazetten, die Berichte, dass Putins Truppen von den ukrainischen zurückgedrängt werden würden ... Berichte, die kein Trost sind, nicht einmal ein kurzes Aufatmen sind sie. Die dumpfe Klammer im Inneren bleibt. Und das Sterben geht weiter. An die Zukunft denken: dass Putin vor dem Einsatz nuklearer Waffen nicht zurückschrecken wird. (Dine Petrik, 12.11.2022)