Neben einer dreispurigen Straße läuft ein Mann auf einem schmalen Grasstreifen zu einer Ortstafel. Es ist die Triester Straße in Niederösterreich, die Ortstafel ist jene von Guntramsdorf. Autos donnern an dem Mann vorbei, es ist nicht sehr gemütlich. Bernhard Pichler wirkt dennoch glücklich. Als er sein Handy aus der Hosentasche zieht und ein Foto vom Ortsschild macht, lächelt er. An der Kreuzung nebenan befinden sich ein Admiral-Wettcafé und "Karins Imbissstube". Pichler ist im Nirgendwo gelandet, genau dorthin wollte er.

Viele Geistesgrößen haben über das Gehen philosophiert. Bernhard Pichler versteht sich in erster Linie als Pilger.
Foto: Christian Fischer

Pichler will in den nächsten Jahren alle Gemeinden in Österreich zu Fuß besuchen. Das Land zählt laut Gemeindebund derzeit 2.093 Kommunen. Begonnen hat der 37 Jahre alte Jurist sein Vorhaben mit dem Burgenland, wo er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Purbach lebt. Seit dem Vorjahr hat Pichler alle 171 Gemeinden des Burgenlandes zu Fuß oder mit dem Fahrrad besucht. Das weitere Österreich-Projekt will er jetzt ganz zu Fuß durchführen. Eilig hat er es nicht. "Beim Wandern bekomme ich mehr mit als beim Radfahren. Ich will die Gemeinden auch nicht einfach abhaken, wie man Pickerln in ein Panini-Album klebt", sagt Pichler.

I’m the Wanderer

Wir treffen uns an einem Donnerstag am Bahnhof Wien-Meidling. Pichler will an diesem Tag von Wien über Perchtoldsdorf, Brunn am Gebirge, Mödling und Guntramsdorf bis nach Gumpoldskirchen gehen. Der Jurist steht vor einem Jobwechsel, von einer Versicherung zu einer anderen, deshalb hat er gerade Zeit. Sonst wandere er am Wochenende und im Urlaub. 40 Prozent der Wege gehe er mit der Familie oder Freunden, 60 Prozent allein.

Pichler ist ein unscheinbarer Typ, braune Haare, blaue Jacke, randlose Brille. Die Ausrüstung in seinem Rucksack ist minimalistisch – eine Wasserflasche, ein Kornspitz, Äpfel, ein Buch, ein Taschenmesser, eine Powerbank, also ein mobiler Akku fürs Handy. Das Handy selbst ist acht Jahre alt, von der chinesischen Firma Oneplus. "Das Navi lässt mich meistens im Stich", sagt Pichler. Als wir zwischen Meidling und Perchtoldsdorf unterwegs sind, schaut er nie aufs Handy, sondern faltet an den großen Kreuzungen einen Stadtplan auf. Das ist seine Idee vom Gehen: Er will nicht den schnellsten Weg gehen, auch nicht den schönsten, auch nicht den schwierigsten. Er will einfach nur gehen.

Die Landkarte lässt ihn nie im Stich – das Navi schon.
Foto: Christian Fischer

Wer hofft, dass in dieser Geschichte ein Geheimnis enthüllt oder die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet wird, der sollte besser nicht weiterlesen. Wenn man Pichler begleitet, wird einem nur in Erinnerung gerufen, dass das Wandern viel mit dem Leben zu tun hat. So eine Wanderung kann eben schön und mystisch sein oder auch monoton und beschwerlich. Man sollte das Gehen weder überhöhen noch unterschätzen. Jeder Tag ist ein Leben, jedes Dorf eine Welt. Über die Dörfer sagt Pichler: "Beim ersten Blick tut man vielen Dingen unrecht, so auch Gemeinden. Deshalb gehe ich in viele Gemeinden zweimal."

Auf das Unbekannte einlassen

Schon viele Geistesgrößen haben über das Gehen nachgedacht. Der deutsche Regisseur Werner Herzog, kürzlich 80 Jahre alt geworden, sagt, "dass sich das Wesen der Welt dem erschließt, der zu Fuß unterwegs ist". 1974 lag die Filmkritikerin Lotte Eisner, die von Herzog bewundert wurde, in Paris im Sterben. Herzog glaubte, er könne ihr Leben verlängern, wenn er zu Fuß von München nach Paris gehe, und brach auf. Eisner lebte nach Herzogs Wanderung noch bis 1983. Sein Buch "Vom Gehen im Eis" erzählt von Strapazen und Schneegestöbern.

Herzog ging wie ein Soldat. Bernhard Pichler versteht sich hingegen als Pilger, sein Vater ist Diakon. Im Sommer 2011 brach Pichler nach seinem Studium auf, um den Jakobsweg zu gehen, und schrieb darüber das Buch "Der letzte Pilger". Darin rät er: "Vertrauen Sie auf die Fremde. Lassen Sie sich auf das Unbekannte ein." Diese Erkenntnis habe er aus Spanien mitgenommen, sagt Pichler, während wir auf der Altmannsdorfer Straße nach Süden in Richtung Wiener Speckgürtel pilgern.

Kein Zeitdruck, kein Ehrgeiz

Irgendwann steht man in Wien-Liesing an der Kreuzung von Perchtoldsdorfer Straße und Ketzergasse, wo Wien endet und Niederösterreich beginnt. Hier stehen heute kein Wehrturm und keine Zugbrücke mehr, sondern eine Filiale von Matratzen Concord und ein Einkaufszentrum mit einem türkischen Supermarkt. Pichler mag es, eine Stadt komplett zu durchwandern, das habe er im spanischen Saragossa gemerkt: "Wenn du in eine Großstadt zu Fuß reingehst, nimmst du sie ganz anders wahr. Zuerst kommen die Vor orte, die Fabriken. Dann werden die Häuser älter und schöner, dann kommen die Sehenswürdigkeiten. Das ist etwas anderes, als mit dem Auto reinzufahren."

Eilig hat es Bernhard Pichler bei seinem Österreich-Projekt nicht. "Ich will die Gemeinden nicht abhaken, wie man Pickerln in ein Panini-Album klebt."
Foto: Christian Fischer

Pichlers Einstellung zum Gehen ist angenehm entspannt. Sein Projekt betreibt er ohne Zeitdruck und Ehrgeiz. Er habe kurz überlegt, jede Pfarrkirche zu fotografieren, diesen Gedanken aber verworfen, weil es mit katholischen und evangelischen kompliziert geworden wäre. Er will auch nicht überall ins Rathaus gehen oder eine bestimmte Speise testen. Die einzige formale Selbstverpflichtung ist ein Foto jeder Ortstafel, um den Überblick zu behalten. Rund 300 Gemeinden hat er bisher besucht.

Erster Rucksacktourist

In der Wiener Gasse in Perchtoldsdorf geht man vorbei an Werbeplakaten, die die österreichische Breite widerspiegeln – von der Stefanie-Sargnagel-Lesung bis zum Feuerlauf über glühende Kohlen mit einem Mentaltrainer. In Brunn am Gebirge hat die SPÖ vor ihrem Parteilokal ein Plakat mit ihrer zentralen politischen Forderung selbst überklebt, sodass man sie nicht mehr lesen kann – mit Werbung für den Kürbiskirtag. In Gumpoldskirchen steht ein Weinautomat, bei dem man sich mit Führerschein oder E-Card ausweisen muss.

Österreich sei ein gutes Land, findet Pichler, auch nach 300 Gemeinden: "Ich glaube, dass die Leute grundsätzlich sehr hilfsbereit sind, sie wollen nur nicht ausgenutzt werden." In Mischendorf im Burgenland sei er zum Beispiel der erste Rucksacktourist gewesen. Die Kaffeehausbesitzerin habe ihn gefragt, ob er sich verlaufen habe. Am Schluss habe sie ihm zwei Flaschen Gatorade und eine Wurstsemmel mitgegeben. "Obwohl ich um nix gebeten hatte, hat die Frau mir geholfen."

Wenn man ihn polemisch nach dem hässlichsten Ort fragt, in dem er gewesen sei, sagt er: "Ich will keinen nennen, das bringe ich nicht übers Herz."
Foto: Christian Fischer

Obschon Pichler mehr Bausünden und Shopping-Schachteln gesehen hat als die meisten, sagt er kaum etwas Negatives über sein Land. "Die Raumplanung ist bei den Bürgermeistern nicht in den besten Händen", das ist sein spitzester Kommentar. Wenn man ihn polemisch nach dem hässlichsten Ort fragt, in dem er gewesen sei, sagt er: "Ich will keinen nennen, das bringe ich nicht übers Herz."

Man versteht Pichler besser, wenn man einen Tag lang mit ihm gewandert ist. Zugleich fragt man sich, ob er wirklich 2.093 Gemeinden abwandern wird. Gut möglich, dass er sich in seiner freundlichen Gelassenheit bald denkt, er geht nun lieber durch Italien oder lieber schwimmen. Wäre ja nicht schlimm. Pichler hat auch dazu ein Gleichnis: 2016 ging er den Olavsweg in Norwegen und bekam höllische Knieschmerzen. Er ging weiter, aber langsamer. Am Zielort Trondheim sei er zwar angekommen, aber er habe damals gelernt: "Es geht gar nicht darum, den Weg ganz zu gehen, sondern einfach nur den Weg zu gehen." (Lukas Kapeller, 12.11.2022)

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