Die Ocean Viking in den Gewässern vor Toulon.

Foto: CHRISTOPHE SIMON / AFP

Wenn es nicht um Menschenleben ginge, könnte man von einer Politburleske sprechen, die sich Frankreich und Italien diese Woche – wieder einmal – geliefert haben. Das vorläufige Finale fand am Freitag im französischen Militärhafen von Toulon statt. Dort dockte das Rettungsschiff Ocean Viking nach einer mehrwöchigen Irrfahrt an. Sämtliche 234 Migranten an Bord, darunter 20 Kranke und 57 Kinder, konnten es verlassen. Sie kamen in die Obhut der französischen Ärzte und Behörden. Deutschland will ein Drittel der Ocean-Viking-Passagiere aufnehmen, acht andere EU-Staaten ein weiteres Drittel.

Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kritisierte dagegen auf sehr undiplomatische Weise das französische Verhalten als "aggressiv, unverständlich und ungerechtfertigt". Warum das? Die rechtsnationale Regierungschefin fühlt sich vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron offensichtlich übertölpelt. Am Dienstag klang sie noch ganz anders, nachdem Frankreich erstmals seine Bereitschaft erklärt hatte, die unter norwegischer Flagge fahrende Ocean Viking der französischen Hilfsorganisation SOS Méditerranée aufzunehmen. Meloni veröffentlichte darauf sogleich ein Kommuniqué, in dem sie den Franzosen mit Nachdruck dankte. "Es ist wichtig, auf dieser Linie der europäischen Kooperation weiterzufahren", fügte sie an. Zumal sie innenpolitisch unter Druck steht: Nachdem sie der Migration den Kampf angesagt hatte, musste sie Anfang dieser Woche die Flüchtlinge mehrerer Rettungsschiffe, etwa der deutschen Humanity 1 und der norwegischen Geo Barents, in Sizilien an Land lassen.

Rom verkennt Paris

Melonis Freude über die scheinbar dargebotene Hand der Franzosen war aber etwas voreilig. In Wahrheit ist der Mittepolitiker Macron alles andere als erpicht auf eine Kooperation mit der rechten Regierung in Rom. Innenminister Gérald Darmanin machte deshalb klar, dass Frankreich die Migranten nicht etwa in Absprache mit Italien aufnehme, sondern weil sich Rom "unverantwortlich und unmenschlich" verhalte. Frankreich erwäge sogar Rechtsschritte gegen Rom, drohte Darmanin. Auch sehe er davon ab, wie im Sommer vereinbart 3.500 in Italien gelandete Migranten zu übernehmen; und die Grenze von Italien nach Frankreich werde er wieder stärker kontrollieren lassen.

Damit war Feuer am bilateralen Dach. Darmanins italienischer Amtskollege Matteo Piantedosi äußerte per Kommuniqué seinerseits "totales Unverständnis" gegenüber Frankreich, das gerade einmal 234 Migranten aufnehme, Italien aber alleinlasse mit den 90.000 Menschen, die in diesem Jahr Süditalien erreicht hätten.

Druck von rechts

Für die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen sind selbst 234 Migranten zu viel: Sie wirft Macron "Laxismus" vor und findet, er sende ein "verheerendes Signal" an alle Migrationskandidaten in Afrika. Vor den TV-Kameras stellte Darmanin daraufhin klar, dass all jene Passagiere der Ocean Viking Frankreich verlassen müssten, deren Bleiberecht nicht ausgewiesen sei.

Im Ton wie im Inhalt klingt das gar nicht so anders als die italienische Regierung. Macron will zwar aus Prinzip nicht den Eindruck erwecken, er mache mit Rom gemeinsame Sache. Pariser Medien fragen sich allerdings, ob der liberale Präsident mit der Aufnahme der Ocean Viking nicht selbst in "Le Pens Falle" getreten sei, die er Meloni habe stellen wollen. Schließlich hätten die Rechtspopulisten in Paris bereits wieder Oberwasser, nachdem sie noch vergangene Woche wegen einer Rassismus-Affäre unter Druck gestanden sind.

Auf europäischer Ebene wirkt hingegen die Meloni-Regierung bereits isoliert. Die EU-Kommission forderte die Mitgliedsstaaten am Mittwoch auf, allein schon aus humanitären Gründen "zusammenzuarbeiten, um eine gemeinsame Lösung zu finden". Das ist nach wie vor ein frommer Wunsch, wie es scheint. Die französische Gründerin der Hilfsorganisation SOS Méditerranée, Sophie Beau, kann sich über die Aufnahme von 234 Migranten auch nur halbwegs freuen. Die diplomatische Krise zwischen Rom und Paris sei ein Ausdruck des "totalen Scheitern der europäischen Staaten, einen Mechanismus zur Rettung und Landung der Migranten zu verwirklichen", sagte sie. (Stefan Brändle aus Paris, 11.11.2022)