Im Gastblog schildert Mathematikerin Sandra Müller (un)gelöste Fragen in der Wissenschaft und erzählt von der Motivation, in ihrem Forschungsgebiet zu arbeiten.

Als ich mein Mathematikstudium begonnen habe, hat mich besonders die Klarheit des Gegenstands fasziniert. Ich bin davon ausgegangen, eine exakte Wissenschaft zu studieren, mit einem klaren Begriff von "wahr" und "falsch". Ich dachte, dass in der Mathematik jede Aussage entweder bewiesen oder widerlegt werden kann. Auch wenn es manchmal sehr schwierig ist, einen Beweis zu finden, fand ich die Tatsache beruhigend, dass es irgendwo da draußen einen Beweis geben wird. Daher war es ein Schock für mich, als ich in einer Logik-Vorlesung gelernt habe, dass dies nicht stimmt. Mein mathematisches Weltbild wurde damit erschüttert.

Wie viele Zahlen gibt es?
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Kurt Gödel hat in den 1930er-Jahren in Wien gezeigt, dass nicht alle Aussagen in der Mathematik beweisbar oder widerlegbar sind. Nun kann man sich leicht damit beruhigen, dass die von Gödel entdeckte Aussage sehr abstrakt ist. Umgangssprachlich hat er gezeigt, dass die Aussage "Ich bin nicht beweisbar" weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Das ist natürlich keine Aussage, der man im normalen Mathematikalltag begegnet. Vielmehr wurde sie extra für dieses abstrakte Resultat konstruiert.

Kurt Gödel.
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Doch auf dieses abstrakte Resultat folgen bis heute immer wieder "alltägliche" Beispiele aus zahlreichen Gebieten der Mathematik. Eine sehr natürliche Frage in diesem Zusammenhang ist zum Beispiel, wie viele reelle Zahlen es gibt. Natürliche Zahlen sind solche, die man bereits aus der Volksschule kennt und aufzählen kann: 0, 1, 2, 3, und so weiter. Bei den reellen Zahlen kommen noch viel mehr dazu: negative Zahlen, Brüche, Wurzeln und andere irrationale Zahlen wie die Kreiszahl π. Georg Cantor konnte bereits vor über 100 Jahren zeigen, dass es mehr reelle Zahlen gibt als natürliche Zahlen. Dazu muss man aber zunächst erklären, was "mehr" hier eigentlich bedeuten soll. Schließlich ist zum Beispiel -1 eine reelle Zahl und keine natürliche Zahl, somit wäre es offensichtlich, dass es mehr reelle Zahlen gibt als natürliche Zahlen. So ist diese Aussage aber nicht gemeint. Cantor konnte zeigen, dass man die reellen Zahlen nicht mithilfe von natürlichen Zahlen aufzählen kann. Das ist deshalb interessant, weil man zum Beispiel die ganzen Zahlen (das sind die natürlichen Zahlen zusammen mit den negativen Zahlen) schon auf diese Weise aufzählen kann. Eine solche Aufzählung wäre 0, 1, -1, 2, -2, und so weiter. Für die reellen Zahlen gibt es eine solche Aufzählung aber nicht.

Ein mathematisches Problem und seine Lösung

Eine natürliche Frage ist nun, ob es denn eine Teilmenge der reellen Zahlen gibt, deren Größe zwischen den natürlichen Zahlen und den reellen Zahlen ist. Eine solche Menge wäre zwangsläufig nicht im oben beschriebenen Sinne aufzählbar, und gleichzeitig könnte man sie nicht benutzen, um eine Zuordnung (das heißt eine verallgemeinerte Aufzählung) für alle reellen Zahlen zu finden. Diese Frage ist als "Cantors Kontinuumsproblem" in die Geschichte eingegangen. Wie zentral und bekannt diese Fragestellung damals war, wird dadurch deutlich, dass David Hilbert sie als erstes Problem auf seiner Liste von 23 Problemen, welche er auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress im Jahr 1900 in Paris vorstellte, aufgeführt hat. Cantor hat zeitlebens versucht, eine Lösung für dieses Problem zu finden, und viele Teilresultate beweisen können. Erst in den 1960er-Jahren, lange nach Cantors Tod, konnte Paul Cohen beweisen, dass Cantors Kontinuumsproblem zu den Aussagen gehört, die in der Mathematik weder bewiesen noch widerlegt werden können. Für diesen bahnbrechenden Erfolg wurde Cohen im Jahr 1966 die Fields-Medaille verliehen, eine der höchsten Auszeichnungen für Mathematikerinnen und Mathematiker weltweit. Die Forcing-Methode, welche er für seinen Beweis entwickelte, ist inzwischen weit verbreitet und noch immer ein wichtiges Forschungsobjekt.

Heutzutage sind noch sehr viel mehr Beispiele für Aussagen, die nicht bewiesen oder widerlegt werden können, aus diversen Teilgebieten der Mathematik bekannt. Insbesondere die Mengenlehre, ein Teilgebiet der mathematischen Logik, liefert viele solcher Beispiele und beschäftigt sich mit deren Analyse und Klassifizierung. Ein weiteres besonders interessantes Beispiel ist das Axiom der Determiniertheit und seine Varianten. Determiniertheitsaxiome haben einen direkten Einfluss auf die Struktur der Mengen von reellen Zahlen, also auf relativ kleine Objekte in der Hierarchie der Unendlichkeiten. Sie sind vergleichsweise leicht zu verstehen und besagen, dass in bestimmten unendlich langen Spielen mit zwei Personen immer eine Seite eine Gewinnstrategie besitzt. Die Tatsache, dass solche leicht zu definierenden Aussagen weder bewiesen noch widerlegt werden können, hat mich zunächst irritiert und dann umso mehr motiviert, diesen Themenbereich möglichst umfassend zu verstehen.

Um die Stärke von Determiniertheitsaxiomen zu bestimmen, werden innere Modelle mit sogenannten großen Kardinalzahlen verwendet. Seit seiner Gründung durch Gödel und Ronald Jensen ist dieses Forschungsgebiet sehr erfolgreich und wurde unter anderem von John Steel, Hugh Woodin und Grigor Sargsyan weiterentwickelt. Ziel ist es unter anderem, verschiedene zentrale Grundprinzipien in der Mathematik und insbesondere der Mengenlehre, wie Determiniertheit, große Kardinalzahlen und sogenannte Forcing Axiome, miteinander zu verbinden. Die Forschung auf diesem Gebiet befindet sich derzeit an einem Wendepunkt, und neue Ideen und Methoden sind nötig, um das Forschungsgebiet voranzubringen. Das ist die Motivation und das Ziel meiner aktuellen Arbeiten. (Sandra Müller, 16.11.2022)