Topu, Rahul und Clifton sind in Katar überall. Sie hocken auf dem Boden und klopfen mit einem Hammer auf Pflastersteine, sie stehen auf wackligen Baugerüsten und verputzen Wände, sie wachen in der brütenden Hitze. Nur einer von zehn Menschen in Katar hat auch einen katarischen Pass und damit ein entspanntes Leben samt von Öl und Gas finanziertem Versorgungsjob.

Die Arbeiter kommen vorwiegend aus Südasien und Afrika. Auf ihre Arbeitskraft – und auf die Gräber der zu Tode Gekommenen – ist die WM gebaut, die in einer Woche beginnt. Katar und der Weltverband Fifa klammern sich an ihre offizielle Realität, wonach das katarische Arbeitsrecht große Fortschritte mache. Wie passt das zusammen? Warum spricht Fifa-Präsident Gianni Infantino von nur drei toten Arbeitern? Was wird nach der WM bleiben?

Mitten in der Wüste: Das Al Bayt Stadium in Al Khor.
Foto: IMAGO/MIS
  • Die Toten

6500. So viele Menschen aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka sind ab der WM-Vergabe 2010 bis 2019 in Katar gestorben, berichtete der Guardian 2021 nach der Zählung der Leichenüberführungszertifikate der jeweiligen Botschaften. Vielerorts wurde das als "6500 Tote auf Katars Baustellen" verkürzt, was die Ausrichter zu Recht dementierten. Nicht alle diese Toten waren Arbeiter, nicht alle starben bei oder wegen der Arbeit. Aber, so viel ist sicher, viele – und es gibt neben den fünf gezählten noch zahlreiche andere Ursprungsländer.

Ende Jänner saß Fifa-Präsident Gianni Infantino im EU-Parlament und hielt trotzig drei Finger in die Höhe: So viele Arbeiter seien auf WM-Baustellen gestorben. Das ist auch die Losung des für die Organisation zuständigen Supreme Committee. Wie Infantino auf diese Zahl kommt? Trick Nummer eins ist, nur vom Supreme Committee (SC) selbst angestellte Arbeiter zu zählen. Das waren auf dem Gipfel der Bautätigkeit zwei Prozent der im Land tätigen Gastarbeiter. Wer glaubt, dass nur dieser winzige Bruchteil des katarischen Bauwahns auf die WM zurückzuführen sei, führt eine Teilzeitbeziehung mit der Realität. Amnesty International berichtete gar von Fassadenarbeitern eines WM-Stadions, die aus dem Raster fielen. So kamen nur wenige der WM-Arbeiter in den Genuss der tatsächlich meist besseren Arbeitsbedingungen unter SC-Ägide.

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Ebenso kreativ ist die Definition von Arbeitsunfällen. Ereilt einen Bauarbeiter in seiner Pause der Hitzschlag, gilt das nicht als Arbeitsunfall. Erleidet ein 25-Jähriger auf dem Heimweg von der Arbeit einen Herzinfarkt, so hat das mit seiner Arbeit offiziell nichts zu tun. Menschenrechtsorganisationen berichten von Fällen, bei denen Arbeiter in Uniform an "natürlichen Ursachen" gestorben sein sollen. 69 Prozent der vom Guardian gezählten Todesfälle wurden so erklärt, fast immer ohne Autopsie und genaue Diagnose. Für die Hinterbliebenen bedeutet das, dass sie um Entschädigungszahlungen umfallen – und dass sie nie erfahren werden, woran ihr Vater, Sohn oder Bruder gestorben ist.

In die Grabsteine muss man auch Namen von Arbeitern meißeln, die nicht direkt auf einer Baustelle starben. Sie starben an Überarbeitung, Hitze, Stress, fehlender Gesundheitsversorgung, Unfällen auf dem Weg zur Baustelle. "Wir können nicht sagen, wie viele dieser Tode hätten verhindert werden können. Wenn das Supreme Committee von drei Toten spricht, ist das einfach eine Beleidigung", sagt Nick McGeehan von der NGO Fair Square, die sich für die Rechte von Wanderarbeitern einsetzt.

  • Das Leiden

Menschenrechtsorganisationen betonen immer wieder: Es gehe nicht nur um die Toten. Nach wie vor würden Gehälter nicht oder viel zu spät ausbezahlt, Arbeiter zu unbezahlten Überstunden gezwungen und erbärmlich untergebracht. Immer noch beklagen sich Arbeiter über überfüllte Quartiere, schlechte Verpflegung und unzureichende Sanitäranlagen. Freilich leben die Klagenden in ihrer Heimat auch oft unter schlechten Bedingungen. Doch der katarische Staat hatte allein im ersten Halbjahr 2022 einen Budgetüberschuss von 12,9 Milliarden Euro. Das Geld für humane Bedingungen wäre vorhanden.

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Die Profiteure und Lohndumper sind freilich nicht nur katarische Firmen. "Es gibt die Wahrnehmung, dass internationale Unternehmen höhere Standards als die lokalen Firmen haben und sich mehr um Arbeiterrechte kümmern. Das ist in der Realität aber nicht der Fall", sagt Max Tuñón, Chef des Büros der International Labor Union in Doha, auf STANDARD-Nachfrage. Ein Beispiel: Unternehmen können auf freiwilliger Basis sogenannte "Workers’ Committees" einführen, quasi einen Betriebsrat light. "Wir haben viele internationale Unternehmen gebeten, solche Komitees einzuführen – neun von zehn Mal hören wir nichts mehr von ihnen. Das sind Unternehmen, die in ihren Heimatländern solche Organisationen haben, sie den Arbeitern hier aber nicht gestatten", sagt Tuñón.

Auf Katars Baustellen arbeiten praktisch keine Frauen, doch Gastarbeiterinnen gibt es sehr wohl – und vielen von ihnen geht es noch schlechter als den Männern. Private Hausangestellte und Dienstmädchen werden am Golf oft wie Sklavinnen behandelt. Mehr als 100.000 von ihnen leben in Katar, meist kommen sie aus Südostasien oder Afrika. Laut Amnesty International arbeiten Hausangestellte im Schnitt 16 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche. Viele bekommen jahrelang keinen freien Tag. "Ich werde wie ein Hund behandelt", berichtete eine Frau. Manche Arbeiterinnen sind sexueller Gewalt ausgesetzt. Viele können ihren Arbeitgeber nicht verlassen, 87 der 105 von Amnesty befragten Dienstmädchen wurde der Reisepass abgenommen, zahlreichen Frauen auch das Handy.

Im Kontext der WM geht das Leiden der Arbeiterinnen meist unter. Das liegt einerseits daran, dass sie auch für Hilfsorganisationen schwerer zu erreichen und vor Ort praktisch unsichtbar sind, andererseits aber auch daran, dass das Fußball-Großereignis ihre Schicksale kaum berührt. Der Fokus liegt auf den Baustellen der Stadien, die ohne die von Korruptionsvorwürfen geprägte WM-Vergabe nie gebaut worden wären.

  • Das Geld

Noch einmal zurück zu Topu, Rahul und Clifton. Sie klopfen, spachteln und wachen immer noch, denn wenn eine Schicht endet, beginnt die nächste, rund um die Uhr, so geht es in Katar seit Jahren. Es hat einen Grund, dass sie in Dohas Hitze schuften, und dieser Grund heißt Geld. Der in der Realität oft überzahlte Mindestlohn von 275 Euro ist mehr, als sie in ihren Heimatländern verdienen könnten – wenn sie dort denn überhaupt einen Job hätten.

"Ich habe ein besseres Leben gesucht", sagt der Kenianer Malcolm Bidali dem STANDARD. Er arbeitete als Wachmann, bevor er wegen der Missstände zu bloggen begann und nach mehrwöchiger Haft das Land verlassen musste. "Mir musste man nichts versprechen, ich wollte raus aus meiner Umgebung." Bidalis Nachbar hatte ihm damals vorgeschlagen, nach Katar zu gehen.

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80 bis 90 Prozent ihres Einkommens schicken die meisten Gastarbeiter nach Hause, doch nicht alles davon landet bei den Familien. Nach Katar kommt man nur über Rekrutierungsagenturen. Stand September 2022 gab es in Nepal 853 solcher Firmen, in Indien waren es mehr als tausend. In Nepal kassieren sie und ihre katarischen Geschäftspartner für die Vermittlung etwa 1500 Dollar – also das 13-Fache des dortigen Mindestlohns. Familien und ganze Dörfer müssen zusammenlegen, um einen Arbeiter erst nach Katar zu bringen; geht das nicht, springen private Kreditgeber ein und verlangen dafür bis zu 36 Prozent Zinsen.

Etwa die ersten zehn Monate schuftet ein Arbeiter also in die Tasche der Rekrutierungsagenturen, die Verträge laufen oft nur zwei oder vier Jahre. Auch deshalb gibt es aus den Reihen der Arbeiter nur selten Widerstand gegen die laufenden Gesetzesbrüche und schrecklichen Bedingungen. Sie brauchen jeden Cent und haben Angst, heimgeschickt zu werden. Viele sind bereits Jahrzehnte in Katar, kommen wieder und wieder. Sie leiden, doch sie können ihre Kinder in die Schule schicken. Wenn sie erst einmal ihre Schulden abbezahlt haben.

Umso schlimmer ist, was in den vergangenen Wochen aus Südasien zu vernehmen war: Immer mehr Arbeiter beklagen sich, weit vor dem Ende ihres Vertrages heimgeschickt worden zu sein. Ihnen wird auch das 2018 eingeführte Beschwerde- und Streitschlichtungssystem nicht helfen, denn darauf haben Arbeiter nur aus dem Inland Zugriff. Ein symptomatisches Beispiel für die Reformen, deren sich Katars Verantwortungsträger brüsten: womöglich gut gemeint, aber nur teilweise effektiv.

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  • Die Reformen

Katars Regierung hat das Arbeitsrecht in den vergangenen Jahren reformiert, auf den Baustellen ist davon wenig zu merken. Die Reform des Kafala-Systems illustriert das gut. Gemäß dieses Fundaments des katarischen Arbeitsmarktes dürfen Gastarbeiter nur auf Einladung eines Arbeitgebers ins Land, nur mit seiner Erlaubnis Job wechseln oder das Land wieder verlassen.

Als eine der ersten Säulen fiel 2019 das Verbot, frei zwischen Jobs zu wechseln. Laut Daten der International Labor Organization, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, wechselten zwischen Oktober 2020 und Oktober 2021 rund 243.000 Arbeiter den Arbeitgeber, fast 14-mal so viele wie im Jahr davor. Laut Menschenrechtsorganisationen ist das aber noch nicht die ganze Geschichte. "Arbeitgeber können immer noch Beschwerde gegen Arbeiter einreichen, die ihren Job verlassen. Sie haben eine App, mit der sie als Sponsor den Ausweis des Arbeiters stornieren können. Das führt dann zur Abschiebung", sagt May Romanos von Amnesty International. Viele der Maßnahmen greifen erst, wenn es sich ein Arbeitnehmer leisten kann, auf seine Rechte zu pochen – das ist in der Realität oft unmöglich, denn viele sind verschuldet und brauchen den kläglichen Lohn.

Die Fan-Aktivitäten in Katar wirken inszeniert.
Foto: Reuters/Djurica

Manchmal ist es auch das zahnlose Design von Reformen, das echten Fortschritt verhindert. 2021 wurden verpflichtende Hitzepausen eingeführt. Ab einer bestimmten Temperatur darf generell nicht gearbeitet werden. Wo genau auf der Baustelle gemessen wird, darf sich die Firma aber selbst aussuchen. Immerhin: Die Zahl der Patienten mit hitzebedingten Krankheiten ging nach der Reform um zwei Drittel zurück.

Es gab in den vergangenen Jahren auch echte Fortschritte: den landesweiten Mindestlohn von umgerechnet 275 Euro, die Schlichtungsstelle samt Arbeitsgerichten, die Arbeiterkomitees. Im regionalen Vergleich entwickelt sich Katars Arbeitsrecht rasend schnell, nach europäischen Standards sind die Zustände jedoch weiterhin untragbar.

Katarer erinnern West- und Mitteleuropäer an dieser Stelle gerne daran, dass diese das Leid einfach nur besser auslagern. Statt beim Bau von Fußballstadien leiden Arbeiterinnen aus Bangladesch beim Nähen von Billig-T-Shirts. Dass Katar trotz aller Qualen für viele Arbeiterinnen und Arbeiter die beste Option ist, liegt an den ähnlich schlechten Arbeitsbedingungen und noch niedrigeren Löhnen in Südasien – an diesen Zuständen sind auch westliche Unternehmen schuld. Nur zur Erinnerung: Das EU-Lieferkettengesetz ist derzeit noch ein Luftschloss.

  • Die Zukunft

Generell sind Katarer oft gekränkt, wenn sie mit arbeitsrechtlichen Mängeln konfrontiert werden. Das ist nicht nur Realitätsverweigerung, sondern auch eine Frage der Perspektive. Im Vergleich zu anderen Golfstaaten hat Katar tatsächlich immense Fortschritte gemacht. Obwohl Kontaktpersonen vor Ort zunehmend eingeschüchtert werden, loben Menschenrechts- und Uno-Organisationen sowie Gewerkschaften die Zusammenarbeit. Über Saudi-Arabien, Bahrain oder den Oman ist derlei nicht zu hören. Dennoch hat auch der Kleinstaat am Persischen Golf noch sehr viele Meilen zurückzulegen.

NGOs fordern einen mit 440 Millionen Dollar dotierten Entschädigungsfonds für die Opfer der WM, das wäre die Summe des insgesamt ausgeschütteten Preisgeldes. Der Fußball-Weltverband Fifa signalisierte im Oktober generell Bereitschaft, Katars Regierung legt sich quer und verweist auf den vorhandenen Staatsfonds. Seit 2020 hat er 164 Millionen Dollar ausgezahlt, vor allem zur Erstattung von nicht ausbezahlten Gehältern und illegalen Rekrutierungskosten. "Für viele kamen diese Programme zu spät, außerdem sind sie immer noch unfertig", sagt Michael Page, der Vizedirektor von Human Rights Watch für den Nahen Osten.

Omnipräsent: Kylian Mbappe und Lionel Messi.
Foto: APA/AFP/GABRIEL BOUYS

Die große Frage ist, was nach der WM passiert. "Die Regierung beteuert, dass sie langfristig denkt, aber wir haben gesehen, dass es viel lokalen Widerstand gegen die Reformen gibt", sagt May Romanos von Amnesty International. Natürlich stört es die katarischen Baulöwen – die übrigens durchaus echte Löwen halten –, wenn sie künftig draufzahlen. Höherer Mindestlohn heißt höhere Kosten, und nur weil die großen Baufamilien schon in Fantastilliarden schwimmen, heißt das nicht, dass sie genug haben.

Der belgische Katar-Experte Gerd Nonneman vom Doha-Campus der Georgetown University prognostiziert, dass sich der Fortschritt zwar "verlangsamen, aber nicht umdrehen" werde. Laut Nonneman denke Katars Führung bereits an die Zeit nach den Gas-Milliarden: "Dann geht es nicht mehr ohne einen normalen Arbeitsmarkt." Auch Nahostexperte James Dorsey war sich zuletzt im STANDARD-Interview sicher, dass die Reformen nicht zurückgenommen werden. Wohl auch, da sich Katar weiterhin um Großereignisse aller Art reißen wird. Damit komme eben, wie jetzt bei der WM, internationaler Druck.

Und die Baustellen? Experten gehen einhellig davon aus, dass nach der WM deutlich weniger gebaut wird. Katars "National Vision 2030" wird erst in acht Jahren finalisiert, aber die große Deadline war und ist der Anpfiff der WM am 20. November 2022. Viele der Gastarbeiter werden ihren nächsten Auftrag in Saudi-Arabien haben, wo das Regime gerade erst richtig auf das infrastrukturelle Gaspedal steigt. Saudi-Arabien will übrigens gemeinsam mit Ägypten und Griechenland die WM 2030 ausrichten.
(Martin Schauhuber aus Doha, 12.11.2022)