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Kiew – Nach dem am Mittwoch angekündigten endgültigen Rückzug der russischen Armee sind am Freitag erste ukrainische Truppen im Zentrum der Provinzhauptstadt Cherson eingetroffen. "Cherson kehrt unter die Kontrolle der Ukraine zurück", erklärte das Verteidigungsministerium in Kiew. Russland hatte die Stadt in der Anfangsphase des Krieges nach kurzem Kampf erobert und seither kontrolliert. Dabei nahmen sie weite Teile der Region Cherson ein, die beide Seiten der Dnjepr-Mündung umfasst. Nach Beginn einer ukrainischen Gegenoffensive Ende August gerieten die Besatzer aber am Westufer in Bedrängnis.

Der offizielle Beschluss zum Rückzug ans Ostufer fiel jedenfalls eher überraschend, nachdem Moskau zuvor noch Verstärkungen in das Gebiet geschickt hatte. Militärisch war es aber wohl eine Notwendgkeit für die im Süden schwer unter Bedrängnis geratene russische Armee. Die Ukraine vermutete deshalb auch immer wieder eine Falle – auch, weil Russland zuvor mehr als 100.000 Menschen aus dem Stadtgebiet deportiert hatte.

Ukrainische Truppen wurden am Hauptplatz der Stadt von einer begeisterten Menge empfangen.

Die russische Armee hatte den vollständigen Truppenabzug nach eigenen Angaben am frühen Freitagmorgen abgeschlossen. Um 05.00 Uhr (04.00 Uhr MEZ) sei "der Transfer russischer Soldaten ans linke Ufer (in in Fließrichtung, Anm. d. Red) des Flusses Dnipro beendet" gewesen, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti veröffentlichte Aufnahmen von russischen Militärfahrzeugen, die Cherson über die Antonowski-Brücke verließen. Die russische Armee gab an, mehr als 30.000 Soldaten aus dem Norden der Region Cherson zurückgezogen zu haben. Meldungen, wonach beim hastigen Rückzug Material und Personal zurückgeblieben sei, dementierte Moskau. Jedenfalls sollen die russischen Besatzer aber massenhaft Minen als finales "Abschiedsgeschenk" hinterlassen. Am Freitagabend wurde auch Beschuss gemeldet. "Aktuell werden Truppen und Militärtechnik der ukrainischen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Flusses Dnjepr beschossen", teilte Russlands Verteidigungsministerium mit.

Widersprüchliche Aussagen

Beim Rückzug auf das andere Flussufer seien viele russische Soldaten ertrunken, behauptete hingegen die Regionalverwaltung von Cherson. Dabei sollen sie auch die wichtige und zuletzt durch ukrainischen Beschuss schwer beschädigte Antoniwka-Brücke über den Fluss Dnipro gesprengt haben. Das russische Verteidigungsministerium meldete Freitagmittag wiederum, mehr als 20 ukrainische Soldaten seien beim Versuch, den russischen Truppen nachzustellen, durch Minenfelder getötet worden. Diese Meldungen können nicht unabhängig überprüft werden.

Die ukrainischen Truppen suchen die Stadt noch nach russischen Soldaten ab.
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Im Zentrum der Stadt wurden die ersten eintreffenden ukrainischen Soldaten jedenfalls von einigen wenigen verbleibenden Menschen euphorisch mit Umarmungen und Beifall begrüßt. Flaggen wurden gehisst. Auf dem Rückzug befindliche russische Soldaten wurden aufgefordert, "sich augenblicklich zu ergeben".

Feierstimmung in Kherson
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Die Rückzugsrouten der "russischen Invasoren" seien unter Feuer der ukrainischen Armee, erklärte Kiew weiter. "Jeder russische Soldat, der Widerstand leistet wird eliminiert." Wer sich ergebe werde jedoch am Leben gelassen, erklärte das Ministerium. Demnach hätten einige russische Soldaten den Befehl erhalten, sich als Zivilisten gekleidet in der Stadt zu verstecken.

Was für immer sein sollte, währte nicht mal ein Jahr.

Die Rückzugsrouten der "russischen Invasoren" seien unter Feuer der ukrainischen Armee, erklärte Kiew weiter der Widerstand leistet wird eliminiert." Wer sich ergebe werde jedoch am Leben gelassen, erklärte das Ministerium. Demnach hätten einige russische Soldaten den Befehl erhalten, sich als Zivilisten gekleidet in der Stadt zu verstecken.

Menschen sollen in Häusern bleiben

Die ukrainische Regionalverwaltung warnt die Bevölkerung eindringlich davor, ihre Häuser zu verlassen, bevor ukrainische Truppen die Stadt vollständig eingenommen haben und die Suche nach möglicherweise zurückgelassenen russischen Truppen abgeschlossen sei. Örtlichen Berichten zufolge waren die ukrainischen Einheiten auch bereits in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Kachowka-Staudamms eingerückt.

Rund um Cherson: Zerstörung.
Foto: REUTERS/Valentyn Ogirenko

Kurz nach dem Abzug der eigenen Truppen aus der ukrainischen Gebietshauptstadt Cherson und weiteren Orten hat Russland eigenen Angaben zufolge mit Angriffen auf die gerade erst aufgegebene Region begonnen. "Aktuell werden Truppen und Militärtechnik der ukrainischen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro beschossen", teilte Russlands Verteidigungsministerium am Freitag mit.

Strategisch wichtig

Für beide Kriegsparteien ist die Region strategisch von großer Bedeutung. Für Russland etwa, um die Offensive in Richtung Mykolajiw und zum Schwarzmeerhafen Odessa fortsetzen zu können. Das scheint nun unmöglich. Darüber hinaus beherbergt Cherson den Kachowka-Staudamm entlang des Dnjepr, der die von Russland annektierte Halbinsel Krim mit Wasser versorgt.

Moskau sieht das ukrainische Gebiet Cherson auch nach dem Abzug seiner Truppen weiter als russisches Staatsgebiet an, was völkerrechtlich überhaupt keine Basis hat. Das Gebiet Cherson bleibe Teil der Russischen Föderation, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge in krassem Widerspruch zur internationalen Gesetzeslage. "Dieser Status ist per Gesetz bestimmt und gefestigt. Hier gibt es keine Änderungen und kann es keine geben", behauptete Peskow. Auf die Frage, ob die Niederlage in Cherson nicht erniedrigend sei für Putin, antwortete Peskow mit einem "Nein". (faso, mesc, APA, 11.11.2022)