16-mal qualifiziert, 16-mal ist nichts passiert: Rafael Nadal konnte die ATP Finals noch nie gewinnen.

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Es wird wieder eine schwere Partie in Turin.

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Das Obszöne an Sportergebnissen ist ihre Vergänglichkeit – vor allem in der Breite. So oft und so gerne das "Legendäre", das "Geschichtsträchtige", die "Meilensteine" im Sport bedient werden, so schnell ist es auch schon wieder vergessen. Wissen ist Macht, hat einmal irgendwer zu irgendwem irgendwann gesagt. Slalomweltcupsieger 2020? Pfuh. Europa-League-Finalisten 2019? Keine Ahnung. Olympiasieger im Fünfkampf 2016? Geh weg.

Wenn Sie auf die Frage, wie oft Rafael Nadal schon die ATP Finals gewonnen hat, in Ihrem Gedächtnis kramen und mit irgendeiner Zahl daherkommen, sind die entweder eine Hochstaplerin oder ein Halunke. Der Spanier hat zwar 22 Grand-Slam-Titel geholt, war Olympiasieger im Einzel und im Doppel, das Tennisfinale der besten Spieler des Jahres konnte er aber noch nie gewinnen. 16-mal hat er es schon probiert. Und die Zeit drängt.

Zahn der Zeit

Bei seinem ersten Antreten 2006 in Schanghai hießen die Gruppengegner Nikolai Dawydenko, James Blake und Tommy Robredo – die sind alle in Pension. Heute ist Nadal 36 Jahre alt. Er trifft beim Jahresabschluss in Turin in der grünen Gruppe auf Casper Ruud, Felix Auger-Aliassime und Taylor Fritz. Das Schöne an Nadal ist aber nicht nur sein atemberaubendes Tennis, sondern auch eine gewisse Ehrlichkeit: "Es ist schwierig, mir vorzustellen, dass ich jetzt zu den ATP Finals fahre und meine Form dort gut genug ist, um ein Turnier zu gewinnen, das ich nie zuvor gewonnen habe."

Der Spanier kämpfte 2022 immer wieder mit Verletzungen, beim 1000er-Turnier in Paris Bercy vergangene Woche musste er sich dem US-Amerikaner Tommy Paul in Runde eins geschlagen geben. Nadal zählt im Pala Alpitour zu Turin nicht zu den unmittelbaren Favoriten – ein ungewohntes Bild, an das man sich gewöhnen muss. Trotz aller Brillanz der vergangenen 20 Jahre nagt der Zahn der Zeit auch am Körper des Mannes aus Manacor.

Neue Sterne

Der Blick in die Vergangenheit beginnt zu verschwimmen, neue Gesichter zwängen sich in die Dominanz. Die Nummer eins der Welt, Carlos Alcaraz aus Spanien, musste verletzt absagen, der Kanadier Auger-Aliassime spielt eine überragende Saison, Russlands Daniil Medwedew bewies beim Turniersieg in Wien eine starke Form, und auch der Grieche Stefanos Tsitsipas ist immer für einen starken Ausreißer gut. In der roten Gruppe spielt neben Tsitsipas und Medwedew noch Andrej Rublew aus Russland. Und da ist natürlich auch noch Novak Djokovic.

Der Serbe verpasste die Grand-Slam-Turniere in Australien und den USA, weil er sich nicht impfen lassen will, Wimbledon gewann er. In Paris-Bercy musste sich der 35-Jährige erst im Finale dem 19-jährigen dänischen Aufsteiger Holger Rune geschlagen geben. Djokovic ist Favorit, wo er antritt. Fünfmal gewann er bereits die ATP-Finals, zuletzt 2015.

Als der Maestro ging

Die ATP Finals sind mehr als nur das letzte große Turnier des Jahres. Sie sind ein Resümee der Saison und ein Spotlight auf das vielleicht wichtigste Attribut im Tennissport: die Konstanz. Und sie stellen auch die Frage, wer noch genügend Saft hat, um sich mit Anstand in Ziel zu schleppen. Darüber hinaus gibt es, wie im Weltsport so üblich, auch ordentlich Kohle abzugreifen: Wer ungeschlagen den Titel holt, streift 4.740.300 Dollar ein.

2022 war ein wildes Tennisjahr. Österreichs Dominic Thiem fand nach großen Comeback-Problemen wieder in die Spur, mit Alcaraz etablierte sich ein neuer Stern. 2022 ist aber vor allem das Jahr, in dem Roger Federer seine Karriere beendete. Der Schweizer hatte den Sport über Jahre dominiert, gewann alles, was es zu gewinnen gab. Darunter natürlich auch die ATP Finals. Und auch wenn es sein langjähriger Rivale und Freund Nadal heuer wieder nicht schafft, liegt vielleicht in gerade dieser Unvollkommenheit das Legendäre. (Andreas Hagenauer, 12.11.2022)