Wie von Zauberhand berührt, soll die Inflation in den kommenden Monaten verschwinden. In der Eurozone wird die Teuerung heuer 8,1 Prozent betragen, das ist mehr als je zuvor in der Geschichte der Währungsunion.

Doch geht es nach der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt, soll die Teuerungsrate binnen der nächsten zwei Jahre auf sage und schreibe 2,3 Prozent sinken – das ist etwa der Zielwert der EZB, die sich der Preisstabilität verschrieben hat. Einen so radikalen Rückgang hat es nicht einmal in den 1970er-Jahren gegeben. Die EZB aber sagt, die Wirtschaft werde diese Phase relativ gut überstehen und weiterwachsen, wenn auch nur gering. Und: Die Arbeitslosenquote soll gerade einmal von 6,7 auf sieben Prozent steigen. Um Peanuts also. Ähnliches soll für die USA gelten. Dort verspricht die Notenbank Fed den für sie relevanten Inflationswert von heuer 5,4 Prozent bis 2024 auf 2,3 Prozent herunterzubringen. Die US-Wirtschaft soll minimal weiterwachsen, die Arbeitslosigkeit nur leicht steigen.

Sanfte Landung?

Aber ist das realistisch? Kann es sein, dass die Weltwirtschaft die Inflation in den Griff bekommt, ohne dass die Arbeitslosigkeit explodiert und eine Rezession ausbricht? Möglich ist ein solches von den Notenbanken "soft landing" genanntes Szenario natürlich. Im Idealfall würde die Teuerung in Europa zunächst bei Energie zurückgehen, ehe sie bei anderen Produktgruppen nachlässt. Es käme zu keinen Zweitrundeneffekten über Lohnsteigerungen.

Kann es sein, dass die Zahl der offenen Stellen zurückgeht, aber die Arbeitslosigkeit niedrig bleibt? Fed und EZB hoffen darauf.
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Eine solche Entwicklung wäre aber ungewöhnlich. Was es an historischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Arbeiten dazu gibt, legt nämlich nahe, dass die Phase des Inflationsrückgangs schmerzhaft wird und die Arbeitslosigkeit deutlich steigen könnte. Neben dem obengenannten Szenario – sinkende Inflation, stabile Wirtschaft – gibt es zumindest ein weiteres: Die Inflation sinkt, und es kommt eine Krise.

Realistische Rezession

Die US-Ökonomen Stephen Cecchetti und Kermit Schoenholtz haben in ihrem Blog "Money, Banking, and Financial Markets" analysiert, was nach Inflationsschüben in den USA seit 1950 geschehen ist. Sie identifizierten zehn Fälle, in denen die Inflation binnen kurzem stark zurückging. In neun davon war die Entwicklung von einer Rezession begleitet, also von mindestens zwei aufeinanderfolgenden Quartalen, in denen die Wirtschaft geschrumpft ist. Und die Ökonomen sagen, dass ein Teuerungsrückgang in der von der Fed aktuell prognostizierten Dimension gemäß historischer Erfahrung die Arbeitslosenrate verdoppeln würde. Das wären sechs Millionen Arbeitssuchende mehr als jetzt.

Das sieht auch der Ökonom Jesús Crespo Cuaresma von der WU Wien ähnlich: Gemäßempirischer Literatur steige im Jahr vor einer Rezession die Inflation oft stark an. Eine hohe Inflation eigne sich sogar dazu vorherzusagen, wann ein Wirtschaftseinbruch eintritt.

Notenbanken in der Hauptrolle

Warum das so ist? Das ist Gegenstand von Interpretationen und Debatten. Inflation entsteht, wenn die Nachfrage höher ist als das Angebot. Inflationsschübe sind also oft begleitet von brummender Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit sinkt dabei kurzfristig, sagt Andreas Resch von der WU. So habe es in der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg kaum Arbeitslosigkeit gegeben, die kam erst in der Deflation und Depression in den 1930ern.

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Bei der derzeitigen Inflationsbekämpfung spielen die Notenbanken die Hauptrolle: Heben sie die Zinsen an, wird die Kreditaufnahme für Unternehmen teurer. Dadurch gibt es mehr Firmenpleiten. Private bauen weniger, die Baubranche leidet. Die Nachfrage sinkt. So soll die Inflation verringert werden. Genau diese Inflationsbekämpfung ist es also, die die Wirtschaft in Richtung Flaute treibt. Ex-US-Notenbankchef und Nobelpreisträger Ben Bernanke kommt in diesem Zusammenhang in einem Paper zum Ergebnis, dass ein großer Teil des wirtschaftlichen Schadens aus Ölpreisschocks nicht durch den Anstieg der Ölpreise entsteht, sondern erst durch die darauffolgende Straffung der Geldpolitik.

Überhitzung

"Inflation, gute Konjunktur, Überhitzung, Stagflation und Rezession", das sei der logischer Ablauf, sagt der Historiker Roman Sandgruber. Beschleunige sich die Inflation, gehe Bürgerinnen und Bürgern irgendwann das Geld aus, was die Konjunktur zwangsläufig wieder abwürge und die Inflation bremse. Unterbrochen würden diese Muster nur durch Kriege, in denen etwa Bezugsscheinsysteme und rigide Preiskontrollen etabliert würden, erklärt der Historiker und Autor, oder durch andere "obrigkeitliche Eingriffe". Als Beispiel nennt er Österreich in den späten 1940er- und frühen 50er-Jahren, als per Gesetz ein Preis- und Lohnstopp verordnet wurde. Damals hat das bei den Preisen nicht funktioniert, was 1950 zum Generalstreik führte. Aus diesem Konflikt erwuchs die Sozialpartnerschaft.

Sehr wohl gelungen ist die Übung in den 1970er-Jahren, damals konnte die Inflation in Österreich ohne längere Rezession heruntergebracht werden. Allerdings waren die Voraussetzungen anders, sagt der Ökonom Philipp Heimberger vom Wiener Forschungsinstitut WIIW. Damals wurden gewisse Produkte preisgeregelt, dazu kamen verordnete Energiesparmaßnahmen. Von alldem gibt es heute wenig, die Kräfte des freien Marktes sollen weitgehend unberührt arbeiten.

Und doch gibt es diesmal eine Besonderheit: den Arbeitsmarkt.

Keine Anzeichen für Flaute

Vor allem in den USA, aber auch in einigen Euroländern wie Deutschland und Österreich ist die Zahl der offenen Stellen so hoch wie noch nie. In Österreich sind beim AMS mehr als 123.000 offene Stellen gemeldet. Die Zahl der Jobs, die zu haben sind, dürfte bis zu dreimal höher liegen, weil nicht alle Stellen beim AMS gemeldet werden, schätzt das Forschungsinstitut Wifo. In den USA kommen derzeit zwei offene Stellen auf 1,7 Jobsuchende. So viele freie Stellen je Arbeitssuchenden gab es seit den 1950er-Jahren nicht mehr.

Wirtschaftsredakteur Andreas Danzer erklärt "Rezession".
DER STANDARD

Eine Hoffnung der Notenbanker in Washington wie Frankfurt ist, dass sich der Arbeitsmarkt diesmal nicht durch mehr Arbeitslose abkühlt, sondern dadurch, dass die Unternehmer weniger Leute brauchen und suchen. Steigt die Arbeitslosigkeit nur leicht, wäre in der Folge der Schaden für das Wachstum geringer. Zahlen von AMS-Chef Johannes Kopf scheinen die These für Österreich zu stützen. Wenn am Arbeitsmarkt eine Krise bevorstehe, zeige sich das zuerst in der Branche der Arbeitskräfteüberlassung, wo es derzeit keine Anzeichen für eine Flaute gebe.

Lieferkettenprobleme und Energiekosten

Gegen die These, dass die Inflation ohne einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit bewältigt werden kann, gibt es allerdings viele Einwände. Der Ökonom Olivier Blanchard etwa bezeichnet das als "trügerische Hoffnung". Dämpften die Notenbanken die wirtschaftliche Aktivität tatsächlich, führe das automatisch zu mehr Arbeitslosen.

Und macht es einen Unterschied, wodurch die Inflation ausgelöst wurde? In Europa war dafür neben Lieferkettenproblemen der Anstieg der Energiekosten hauptverantwortlich. Ein Angebotsschock also. In den USA war es hauptsächlich die große Nachfrage, angetrieben durch hohe Staatsausgaben.

Der frühere Chef der Oesterreichischen Nationalbank, Ewald Nowotny, sieht deshalb die Gefahr einer Rezession in Europa als größer als in den USA an. Die höheren Zinsen der US-Notenbank kühlen demnach dort bloß die Wirtschaft etwas herunter. In Europa dagegen haben Unternehmen und Haushalte – mindestens – zwei Probleme, wenn die Notenbanken im Kampf gegen die Inflation aufs Gas steigen: Sie kämpfen gleichzeitig mit höheren Energiekosten und höheren Zinsen. (Renate Graber, András Szigetvari, 12.11.2022)