Die ehemalige Drag Queen Prior (Patrick Güldenberg) im doppelköpfigen Schwanenkostüm.

Foto: Susanne Hassler-Smith

Als der amerikanische Dramatiker Tony Kushner Engel in Amerika schrieb, wirkte das Stück wie eine Befreiung. Man schrieb den Beginn der 1990er-Jahre, und die Schwulenszene war nach Jahren einer erfolglos bekämpften Pandemie wie gelähmt. In der öffentlichen Meinung war Aids ein Problem von Drogensüchtigen oder eben Homosexuellen, und die amerikanische Administration unter Präsident Ronald Reagan dachte in den Jahren zuvor gar nicht daran, dieser Stigmatisierung etwas entgegenzusetzen.

Dies war Dramatikern wie Tony Kushner vorbehalten, einem schwulen jüdischen Drehbuch- und Theaterschreiber aus New York, der in den Jahren seit dem Ausbruch der Immunschwächekrankheit rund um das Jahr 1984 bereits eine Unzahl an Freunden verloren hatte.

Mit Engel in Amerika setzte er der Unsicherheit und Machtlosigkeit, der Angst und der Wut ein literarisches Denkmal entgegen, das genauso vom Stolz und Überlebenswillen der Betroffenen handelte wie von den Anwürfen, denen sie ausgesetzt waren. Den Realismus des amerikanischen Theaters ließ er auf die Phantasmagorien der schwulen Subkultur, die Welt des Drags und Fetischs treffen. Und wenn die Not am größten war, schwebte ein überlebensgroßer Engel von der Decke; allerdings nicht einer, der wie jener von Walter Benjamin auf die Geschichtstrümmer zurückblickte, sondern einer, der sein Antlitz in die Zukunft richtete.

1994 in Wien

Die Kraft und die Selbstbehauptung, die von diesem Stück ausgingen, waren auch 1994 evident, als es Hans Gratzer ans Wiener Schauspielhaus holte und monatelang vor ausverkauftem Haus spielte. Erich Schleyer gab damals den windigen Anwalt Roy M. Cohn, einen Gauner und Kommunistenhasser, der zwar mit Männern schläft, aber das Wort "homosexuell" weit von sich weist. "Schwul" seien nur Männer ohne Macht, er selbst drücke dagegen 15 Tasten auf seinem ziegelsteingroßen Mobiltelefon, und Nancy Reagan antworte am anderen Ende der Leitung.

Schwul? Aber Roy M. Cohn doch nicht. Markus Scheumann gibt den windigen Anwalt.
APA/SUSANNE HASSLER-SMITH

Diese Selbstverleugnung, ja dieser Selbsthass ist auch dem drahtigen, sich dauerverbiegenden Körper von Markus Scheumann eingeschrieben, der jetzt, über 30 Jahre nach der New Yorker Uraufführung und beinahe 20 Jahre nachdem HBO die zwei Teile des Stücks zu einer sechsteiligen Miniserie mit Al Pacino, Meryl Streep, Emma Thompson und Jeffrey Wright machte (eine Oper kam 2004 raus), diesen Roy im Akademietheater gibt.

Im Jockstrap steht er da, der Körper übersät mit rosa Winkeln (die Nazimarkierungen wurden auch zum Symbol der Schwulenbewegung Act Up), und hört nicht auf, den jungen Anwalt Joe (Felix Rech) vollzulabern. Dieser ist Mormone und gehört genauso wie das Pärchen Louis und Prior zum klassisch gewordenen Figurenarsenal des Stücks. Wie wenige andere Theaterstücke der vergangenen Jahrzehnte ist Engel in Amerika in die schwule Kulturgeschichte eingegangen, als Denkmal aus einer Zeit, als die Anliegen von Schwulen und Lesben noch weitgehend separat gehandelt wurden und LGBTQI+ eine unverständliche Aneinanderreihung von Buchstaben war.

Nahende Identitätsdebatten

Es gehört allerdings zu den Qualitäten von Kushners Stück, dass hier bereits einige der Identitätsdebatten der nahen Zukunft oder die Selbstermächtigung durch Drag aufblitzen. Mit der schwarzen Dragqueen Belize (Bless Amada) wird die von konfessionellen Gegensätzen (Juden, Mormonen, Katholiken) geprägte weiße schwule Welt noch einmal um einen entscheidenden Faktor ausgeweitet. Und es ist wohl kein Zufall, dass justament die Szene zwischen Belize und Louis (Nils Strunk) zur stärksten des gesamten Abends wird. Den selbstvergessen nivellierenden Argumenten des jüdischen Gerichtsgehilfen setzt sie nach der Pause die Realität einer schwarzen Dragqueen entgegen, also von jemandem, der in der queeren Hierarchie ganz unten steht.

Es sind solche Momente, in denen der amerikanische Regisseur Daniel Kramer den 1980er-Jahre-Historismus seiner Inszenierung hinter sich lässt. Tatkräftig unterstützt wird er dabei von starken Schauspielern und von Kostümbildner Shalva Nikvashvili, der Louis’ Freund Prior (Patrick Güldenberg) ein doppelköpfiges Schwanenkostüm verpasst oder Joes tablettenabhängige Frau Harper (Annamária Láng) in ein Eisbärenkostüm steckt.

Und wenn Tei Blow (Musik) auf der von 16 schwarzen Särgen dominierten Bühne (Annette Murschetz) die Musik lauter dreht und Bless Amada eine Playbacknummer gibt, dann schlägt diese Inszenierung von Engel in Amerika plötzlich ganz mühelos eine Brücke zu RuPaul’s Drag Race. Queere Ästhetik hat Widerspruch und Hedonismus schon immer zusammengedacht.

Wie gut, dass das auch heute noch funktioniert. (Stephan Hilpold, 13.11.2022)