Franz Manola entwickelte 1997 ORF.at. Im Gastkommentar mischt er sich in die Debatte über die "Blaue Seite" des ORF ein. Die "arg geschundene Gutenberg-Galaxis zu verteidigen" solle "keine öffentlich-rechtliche Aufgabe sein, sehr wohl aber der Bildungs- und Kulturauftrag?", fragt er.

ORF.at "bewegt sich" – mit weniger Textinhalten, kündigte Generaldirektor Roland Weißmann im September an.
Foto: APA/Eva Manhart

Es liegt mir fern, mich in den Disput zwischen Armin Thurnher und Veit Dengler um den Online-Auftritt des ORF einzumengen. Ich glaube dennoch, dass es einen Wert hat, wenn ich ein paar Fakten ins Treffen führe, um diese Debatte zu präzisieren, namentlich die Einlassungen Denglers (siehe "Der ORF braucht Mut – wie ein Tiger").

Dengler liegt falsch mit seiner Vermutung, dass das TVthek- und das Ö3-Angebot viel stärker nachgefragt werden als die Blaue und die Gelbe Seite, also die Sport- und die Informationsseite. Die Blaue Seite ist seit über zwanzig Jahren die Lokomotive des ORF-Online-Auftritts, der eine monatliche Reichweite von über fünf Millionen erzielt, also genauso groß ist wie jener des ORF-Radios und -Fernsehens. In der 1,8-Millionen-Zielgruppe der unter 30-Jährigen erreicht dieses Angebot 1,3 Millionen (kein soziales Netz übertrifft diese Marke). Die durchschnittliche tägliche Verweildauer von 20 Minuten lässt sich einordnen, wenn man weiß, dass Facebook in seiner besten Zeit auf 33 Minuten kam.

"Der ORF hat Zukunft, wenn er wieder zum Medium für alle wird, Budget umschichtet von der Verwaltung und leicht privat ersetzbarem Material zu mehr – österreichischer – Inhalteproduktion; sich an veränderte Lebensumstände anpasst; und ja, auch für Freaks Angebote macht." Veit Dengler in seiner Kolumne

Dengler verschätzt sich aber nicht nur massiv bei den Größenordnungen, seine Einordnungen der Blauen Seite im Gesamtgefüge des ORF ließe sich mit George Orwells Warnung hinterfragen: "To see what is in front of one’s nose needs a constant struggle": Wenn ein Medientitel 25 Jahre ständig an Reichweite und Relevanz gewinnt, benachbarte Medien – lineares Fernsehen und Radio – stagnieren oder schrumpfen, dann fällt das Publikum Tag für Tag das Urteil, was seiner Ansicht nach die "Kernkompetenz" des ORF ist, die Dengler ausschließlich im "Audio-Visuellen" erkennt. Seine Kernkompetenz liegt selbstverständlich im Multimedialen.

Im Ernst?

Ich stehe noch unter dem frischen Eindruck eines Podcasts, in dem Matthias Strolz stundenlang und dennoch kurzweilig von den Anfängen seiner Neos-Parteigründung erzählt, in der Dengler eine bedeutende Rolle spielte. Ich sehe seit diesem Hörerlebnis die Person Strolz, die nicht enden wollenden Mühen der politischen Ebene und – by implication – Dengler in einem anderen Licht. Hat der Falter, dem ich diese Erhellung meines Horizonts verdanke, seinen textbasierten Hometurf unzulässig überschritten? Alberne Frage, jeder "Print"-Verlag weit und breit dringt mit Macht in das "Audio-Visuelle" vor, inklusive der typografischen Hochburg Neue Zürcher Zeitung, wohin sie Dengler in seiner NZZ-Zeit vermutlich an vorderster Front gedrängt hat. Der ORF soll sich vor diesem Hintergrund aus dem Bereich Text zurückziehen, im Ernst?

Weltoffene Optimisten

Was mich zur Frage führt, warum ausgerechnet die Neos die Speerspitze bilden, wenn der Ruf nach Abschaffung der Blauen Seite erschallt. Günther Ogris vom Sora-Institut hat vor einiger Zeit mit einem Team brillanter junger Soziologinnen und Soziologen im Auftrag des ORF eine profunde Untersuchung angestellt, welche Wertemilieus es in Österreich gibt und wie deren Weltbild mit ihrem Medienkonsum korreliert. Von den fünf Clustern, die dabei herausgearbeitet wurden, ist einer in diesem Zusammenhang besonders interessant, Ogris nennt ihn: "Weltoffene Optimisten Österreichs".

Weiterführende oder höhere Bildung, die Überzeugung, dass bei allen Problemen die Zukunft heller leuchtet als die Vergangenheit, und ein Glaube an die Lösungskompetenz der Politik und ihrer demokratischen Institutionen sind nur einige der Kennzeichen dieses urbanen Milieus. Man könnte es auch so sagen: die breite funktionale Elite des Landes. Nach dem Falter-Podcast bin ich sicher: Die Neos wollten immer in der Mitte dieses Clusters landen, der eine deutliche Unzufriedenheit mit den meisten ORF-Hervorbringungen, namentlich jenen des Fernsehens, hat. "Aber alle von denen sagen, die Blaue Seite ist seit Jahren die Basis ihrer Tagesinformation", war die Aussage eines der Demoskopen.

Geschundene Gutenberg-Galaxis

Ich weiß nicht, ob die Forderung "Sperrt die Blaue Seite zu" (Neos-Mediensprecherin Henrike Brandstötter) in ihrer Konsequenz in eins fiele mit der Selbstauslöschung des Bürgertums in diesem Land, wie Thurnher befürchtet. Aber die Selbstbeschädigung jener Partei, die angetreten ist, das junge, neue Bürgertum zu repräsentieren, und das in Teilen auch tut, darf sehr wohl konstatiert werden. Jede Idee von Bürgertum ist eng verwoben mit dem Grad von Verschriftlichung einer Gesellschaft, die auf Bildung, Wissenschaftlichkeit, Rechtssicherheit, Gewaltentrennung gründet. Die arg geschundene Gutenberg-Galaxis zu verteidigen, das soll keine öffentlich-rechtliche Aufgabe sein, sehr wohl aber der Bildungs- und Kulturauftrag? Das ist nicht durchdacht.

Im Übrigen darf ich festhalten, dass die Blaue und die Gelbe Seite und ihre Redaktion in einer Tochtergesellschaft des ORF angesiedelt waren, die noch nie einen GIS-Euro in Anspruch nehmen musste. Und die dennoch in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten mehr für das Ansehen der Dachmarke ORF – und ganz besonders für deren "Digitalität" – geleistet hat als irgendein anderer alter Konzernschlauch, in den mit durchwachsenem Erfolg versucht wurde, den einen oder anderen neuen Wein einfließen zu lassen. Das ist ihr gelungen mithilfe einer von publizistischem Wollen durchdrungenen Redaktion unter der Führung des begnadeten "Digital-Blattmachers" Gerald Heidegger.

Reinkarnation von Alfons Dalma

Die Quittung für die Leistungen war die De-facto-Auflösung dieser Firma, die Einsetzung eines Matthias-Schrom-Adepten als neuem Chefredakteur und die Eingliederung der Redaktion in Schroms zentralen Newsroom, wo er als Reinkarnation von Alfons Dalma über Fernsehen, Radio und Online gleichermaßen zu herrschen gedachte. Alles unter dem Primat der "Bewegtbild-Kompetenz", die die Konzern-Nomenklatur wie eine Monstranz vor sich herträgt. Im großen Gegensatz zum Unbewegtbild, mit dem die Blaue Seite provokanterweise ihre ikonische Wirkung erzielt. (Franz Manola, 14.11.2022)