Sepp Blatter im Geldregen: Der ehemalige Fifa-Präsident hat viele Proteste ignoriert.

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Christoph Biermann, "Um jeden Preis. Die wahre Geschichte des modernen Fußballs von 1992 bis heute".

€ 18,50 / 248 Seiten.

Kiepenheuer & Witsch, 2022

Der Fußball war, seit er als Schau-Spiel betrieben wird, immer schon Geschäftemacherei. Das wird oft vergessen, wenn die Abwege, Einbahnen, Auswüchse des modernen Spiels beklagt werden. Allzu leicht gerät der Klagende dabei in den Romantikmodus, dass früher alles besser war – weil übersichtlicher, geordneter, angemessener. Kurz, weil das Spiel noch ein Spiel war. Eines, in dem der Ball eine Seele hatte, wie man das aus der Saublase sich entwickelnde Innere des Balles nennt.

Jene, die ihre Ohren spitz halten für Berichte von ganz früher, wissen freilich zum Beispiel vom Ungarn Alfréd Schaffer, der schon gleich nach dem Ersten Weltkrieg kickend durch Europa getingelt ist mit dem bis heute gültigen Spruch: "Ich spiele in jeder Währung." Und er war damit keineswegs der Erste oder gar Einzige. Selbst die verlogensten deutschen Scheinamateur-Klubs – Österreich führte ja schon 1924 den Profibetrieb ein – öffneten unter der Hand bereitwillig die Kassen.

Das Wesen des Spiels

Die Vereine waren schon damals veritable Unternehmen. Die Einnahmen speisten sich auch aus Werbung und Sponsoring und internationalen Auftritten. Gute Spieler gingen lukrativen Reklametätigkeiten nach. So "kommerzialisiert" war das ballesterische Schauspiel also schon in der Frühzeit.

Das Spiel, auf das wir heute schauen, ist gleichwohl noch einmal etwas anderes. Ohne Friedrich Engels überstrapazieren zu wollen: Hier ist tatsächlich das dialektische "Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität" am Werk. Das Wesen des Spiels ändert sich fraglos mit dem Quadrat der Geldmenge, die darin im Umlauf ist. Man kann auch sagen: Das Schauspiel Fußball zeigt alle Merkmale einer Blasenbildung.

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Plusterer-Dämmerung

Blasen neigen zum Platzen. Das dämmert nun selbst den unermüdlichsten Bläsern, den Plusterern. Vor ein paar Tagen klopfte sich sogar Sepp Blatter ein Mea culpa auf die Brust: "Die Vergabe an Katar war ein Irrtum. Und dafür trug ich als damaliger Präsident die Verantwortung", sagte der Schweizer, der den Weltfußballverband (Fifa) von 1998 bis 2016 führte.

Allein aus Fernseh- und Marketingrechten für die nun anlaufende WM lukrierte die Fifa vier Milliarden Euro. Reichlich Schmerzensgeld fürs schlechte Gewissen. 1998 – Frankreich wurde daheim Weltmeister – waren die Fernsehrechte knapp 100 Millionen wert.

Die Fifa ist freilich nicht alleine bei der Monetarisierung des schönen Spiels. In gewisser Weise zog der Weltverband nur nach. Schwung aufgenommen hat alles in Europa, genauer, in England. Unlängst erschien dazu ein sehr ans Herz zu legendes Buch über – so der Untertitel –"die wahre Geschichte des modernen Fußballs". Christoph Biermann, einer der klügsten Fußballschreiber deutscher Zunge, beschreibt darin die Entwicklung des Spiels seit dem gewissermaßen magischen Wendejahr 1992, in dem alles damit begann, dass die Premier League ins Leben gerufen wurde. Aber nicht nur.

Superliga-Substitut

Die Großen dieser schon als First Division wertvollsten Liga der Welt setzen ihren Kollegen vom Kontinent den Floh einer geschlossenen europäischen Superliga ins Ohr. Um diese Entwicklung hintanzuhalten, gründete der europäische Verband Uefa selber die Champions League, die 1992/93 erstmals ausgetragen wurde anstelle des alten Meistercups. Dessen K.-o.-Modus – teilnahmeberechtigt waren nur die nationalen Meister und der Titelverteidiger – hatte auch den Vertretern kleinerer Ligen immer wieder die Chance auf Erfolge gegeben. Damit war es nun vorbei. 2004 war es das letzte Mal, dass mit dem FC Porto ein CL-Sieger nicht aus England, Spanien, Deutschland oder Italien kam.

Treiber dieser Entwicklung hin zu einer unausgesprochenen Super League – die als Drohung ohnehin weiterhin über der Uefa hängt – war das Fernsehen. 1992 startete in Deutschland die stilbildende Sendung ran des Privatsenders Sat1. 2004 gingen selbst in Österreichs vergleichsweise unbedeutender Liga die Fernsehrechte ans Pay-TV. Das Kommerzfernsehen griff nun aber auch unmittelbar in die sportliche Planung ein.

Der Spieltag und die Anpfiffzeiten wurden aus Programmierungsgründen weit gesplittet. Selbst im diesbezüglich so konservativen Deutschland wurde 1993 der Sonntag zu einem Spieltag und der Montag zu einem in der zweiten Liga. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag waren europäisch. Das Fernsehen konnte nun täglich Fußball übertragen. Zur Freude der Sponsoren und Investoren.

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Börse und Bosman

Bald folgten die Vereine dem Vorbild von Tottenham Hotspur. Die Nordlondoner gingen schon 1983 mit sich selber an die Börse. Selbst Rapid wandelte sich 1991 zur AG. Auf Wienerisch halt. Der Turbo zündete allerdings erst so richtig im Jahr 1995 mit dem Bosman-Urteil. Seither galt und gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Fußballspieler. Nationale Beschränkungen sind verboten. Die großen Ligen wurden zu Sammelplätzen der Besten, die großen Vereine in ihnen zu solchen der Allerbesten. Die verdienen entsprechend: Fantastillionen. Die Klubs lizitieren einander in lichte Höhen. Denn nur die Besten produzieren das Produkt, das da weltweit verkauft wird: Aufmerksamkeit und Leidenschaft.

Da das Fußballspiel aber stets eines Gegners bedarf und also einer Liga, braucht es auch Unterläufel. "Weil der Fußball in den letzten drei Jahrzehnten mit Geld geflutet worden ist", so schreibt Christoph Biermann, "hat diese Flut überdies alle Boote gehoben." Selbst die vergleichsweise Pimperlliga hierzulande hat immens profitiert. Fernsehgeld und der ausgerechnet vom Defraudanten Martin Pucher erdachte Verteilschlüssel des Österreicher-Topfs, aus dem sich RB Salzburg freiwillig herausgenommen hat, garantierten Mindesteinnahmen.

Der Lohn der Globalisierung

Noch nie wurde so brillant Fußball gespielt. Auch in Österreich. Das ist der Lohn dafür, dass das Spiel sein Lokalkolorit verloren hat. Red Bull etwa ist auf vier Kontinenten ballesterisch tätig. Akademien und Scouts sind in Westafrika, Süd- und Nordamerika unterwegs. Und Red Bull Salzburg ist, im europäischen Vergleich, ein bloßer Ausbildungsverein. Hier werden die Talente geschmiedet, die dann bei Manchester City (Erling Haaland), Liverpool (Naby Keïta) oder Bayern (Sadio Mané) als gefährliche Waffen zum Einsatz kommen.

Der Fan jubelt. Und leidet. Fans träumen, weil sie Fans sind, von lokaler Verbundenheit, ehrlichem Spiel, starken Emotionen. Von Zugehörigkeit. Die diesbezügliche, große Erzählung erschien 1992: Fever Pitch von Nick Hornby.

Entkernt, entseelt

Als Red Bull 2005 die Salzburger Austria entkernte, ja entseelte, protestierten nicht nur die violetten Fans. Andreas Ivanschitz wechselte 2006 von Rapid nach Salzburg. Ivanschitz, Herzenskicker der Westtribüne, wurde danach im Hanappi-Stadion ganz besonders ausgebuht. So, wie es einem Verräter gebühre, meinten die Ultras.

Rapid hat die aktivsten, agilsten, beeindruckendsten Fans. Seit 1988 gibt es auch die Ultras, die sich herleiten von Tifosi-Gruppen in Italien. 1999 veröffentlichten die Ultras von AS Roma ihr Manifest "Contro il calcio moderno", das all die Auswirkungen des Geldfußballs aufzählt: Stehplatzverbot, Verbot des übertriebenen Torjubels der Spieler, Aufsplittung des Spieltages. Schließlich fordern sie "die Wiederherstellung des alten Meistercups".

Ohne jetzt den Karl Marx überstrapazieren zu wollen: Hier kommt der Doppelcharakter des modernen Fantums sehr schön zum Ausdruck. Denn die leidenschaftliche Widerspenstigkeit der Ultras – die nicht immer leicht zu ertragen ist, nicht nur für die Klubbetreiber – verwandelt sich flugs in jene sehenswerte Kulisse, ohne die auch das Fernsehspiel nur eine öde Sache wäre. Deshalb wohl wird von Ligaseite Nachsicht geübt mit dem SK Rapid. Und von Klubseite sowieso.

Die Roma-Ultras glaubten, dass die Herren des neuen Fußballs nicht verstehen, "dass unsere Teams für uns ein Glaube sind, dass ihre Symbole auf unsere Arme tätowiert sind und dass ihre T-Shirts für Leute wie uns unsere Städte repräsentieren".

Es ist aber ganz gut möglich, dass in Wahrheit das Gegenteil der Fall ist. Dass sie es sehr gut verstehen. Sie meinen es nur anders. Zielgerichteter. Denn das ist ja das Moderne am Fußball: Geschäft ist Geschäft. (Wolfgang Weisgram, 14.11.2022)

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