Auf der Istanbuler Einkaufsstraße İstiklal Caddesi wurden Nelken niedergelegt. Am Vortag waren sechs Menschen durch eine Bombe getötet worden. Über 80 wurden verletzt.

Foto: Reuters / Umit Bektas

Schon von weitem ist eine größere Menschenmenge zu sehen, die sich mitten auf der İstiklal Caddesi zusammendrängt. Kamerateams, Schaulustige, Anrainer stehen dicht an dicht um einen roten Teppich, auf dem die Verwaltung des Stadtteils Beyoğlu hunderte rote Nelken abgelegt hat. Dieser rote Teppich ist das Epizentrum am Tag danach. Am Tag, nachdem der Terror nach Istanbul zurückkam.

Am Montagvormittag machen die Politiker am roten Teppich auf der İstiklal ihre Aufwartung. Zuerst kommt der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu. Kaum ist er weg, entsteht eine richtige Bugwelle von Polizei und Kameraleuten, die den Auftritt des türkischen Innenministers Süleyman Soylu ankündigt. "Wir werden zurückschlagen", verkündet Soylu in die Mikrofone der diversen in- und ausländischen TV-Anstalten, die sich um den Innenminister drängeln.

46 Festnahmen

Zuvor hatte Soylu schon offiziell bekanntgegeben, dass seine Polizei die Schuldigen geschnappt habe. 46 Personen wurden festgenommen, darunter sei auch die Attentäterin. Am frühen Morgen zeigte das Staatsfernsehen ein Video, wie die Polizei eine Wohnung in dem Istanbuler Vorort Küçükçekmece stürmt, eine Frau – eine syrische Kurdin – zu Boden wirft und festnimmt. Die Frau ist diejenige, die auf den Überwachungskameras zu sehen ist, wie sie an einer Bank ein Paket abstellt, eine Zeitlang dort sitzenbleibt und sich dann schnell entfernt.

Wenig später detonierte die Bombe, mitten in der Menge, die sich an diesem Sonntagnachmittag durch die wichtigste Einkaufsstraße Istanbuls schob. Vier Menschen starben an Ort und Stelle, zwei weitere später im Krankenhaus. Alle sind türkische Staatsbürger, darunter zwei junge Mädchen. Angeblich gab die Frau unmittelbar nach ihrer Festnahme zu, die Bombe platziert zu haben. Und nicht nur das: Sie sei Anhängerin der kurdischen PKK beziehungsweise ihrer syrischen Ableger PYD und deren Miliz YPG. Sie sei von der PKK in Kobane mit dem Attentat beauftragt worden, der Stadt, die als die kurdische Hochburg in Nordsyrien gilt.

PKK weist Verantwortung zurück

Ein perfekterer Fahndungserfolg ist kaum denkbar. Die meisten Trauernden an der İstiklal zucken angesichts dieser Nachrichten erst einmal mit den Schultern. Übersetzt heißt das: Es ist möglich, dass die PKK tatsächlich für das Attentat verantwortlich ist, es ist aber auch möglich, dass der türkische Geheimdienst und die Polizei diese Geschichte zusammengebastelt haben.

Die PKK und die Kurdenmiliz YPG haben hingegen jegliche Verantwortung für den Anschlag von sich gewiesen. Ein Angriff auf die Zivilbevölkerung auf türkischem Boden käme in keinem Fall infrage, hieß es am Montag in einer von der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF veröffentlichten Erklärung. Die Gruppierung unterstütze keine Angriffe, die direkt gegen Zivilisten gerichtet seien. Auch die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien bestritt jegliche Verbindung zur Hauptverdächtigen und unterstellte der Türkei, "Lügen" zu verbreiten.

Die PKK – nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa und den USA als Terrororganisation gelistet – hat bisher vor allem Anschläge auf Polizei und Militär verübt, allerdings hat sie sich 2016 auch zu einem Anschlag in einem Park in Ankara bekannt, bei dem etliche Zivilisten getötet wurden. Auffällig ist aber, wie konsequent die türkische Regierung ihre Informations- und Deutungshoheit über den Anschlag durchgesetzt hat. Zunächst wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Dann wurden die sozialen Medien ausgeschaltet. Währenddessen verkündete das Staatsfernsehen Schritt für Schritt die Fahndungserfolge.

Biden trifft Erdoğan

Wie sehr die angebliche PKK/YPG-Täterschaft der türkischen Regierung politisch zupasskommt, zeigte sich, als Innenminister Soylu Montagmittag die Beileidsbekundung der US-Botschaft in der Türkei brüsk zurückwies. Das sei scheinheilig, würden doch gerade die USA die YPG in Syrien bis heute mit Waffen beliefern. Die Zusammenarbeit der USA mit der syrischen Kurdenmiliz YPG im Kampf gegen den "Islamischen Staat" ist seit Jahren eine der größten Belastungen zwischen den Nato-Partnern Türkei und USA. Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan kann an diesem Dienstag beim G20-Gipfel in Indonesien US-Präsident Joe Biden persönlich darauf ansprechen.

In oppositionellen Kreisen wird bereits darüber spekuliert, dass Erdoğan den Anschlag als Rechtfertigung nutzen könnte, seine Truppen nun doch noch erneut in Nordsyrien einmarschieren zu lassen. Dass dieser Anschlag erst der Beginn einer Serie gewaltsamer Erschütterungen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Frühjahr sein könnte, ist eine der am meisten gehörten Befürchtungen am Rande der Trauer am roten Teppich. (Jürgen Gottschlich, APA, 14.11.2022)