Die Euphorie in Cherson ist weiterhin groß, die überall lauernden Gefahren aber ebenso. Nachdem sich russische Truppen an das östliche Ufer des Flusses Dnjepr zurückgezogen hatten und ukrainische Soldaten am Wochenende in der Region Cherson als Befreier begrüßt worden waren, besuchte Präsident Wolodymyr Selenskyj Montagfrüh persönlich die gleichnamige Gebietshauptstadt.

Wolodymyr Selenskyj besuchte das befreite Cherson.
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Vor dem Verwaltungsgebäude im Stadtzentrum wandte sich Selenskyj mit einer Ansprache an die lokale Bevölkerung. Dabei dankte er auch der Nato und anderen Verbündeten für die Unterstützung durch Waffenlieferungen. Vor allem US-Raketen hätten bei der Rückeroberung einen großen Unterschied gemacht.

Den Menschen auf dem Platz, viele davon mit ukrainischen Fahnen in den Händen, rief er zu: "Wir sind bereit für den Frieden, für Frieden für unser gesamtes Land." Frieden um jeden Preis dürfte Selenskyj freilich auch diesmal nicht damit gemeint haben. Immer wieder hat Kiew bekanntlich betont, dass ein Abzug der russischen Truppen aus den besetzten ukrainischen Gebieten Voraussetzung für Gespräche mit Moskau sei.

Vorwürfe an die Besatzer

Zuvor hatte Selenskyj in seiner nächtlichen Videoansprache den russischen Streitkräften Kriegsverbrechen in der Region Cherson vorgeworfen. So habe man etwa auch Leichen von Zivilisten gefunden. Russische Soldaten seien mit "derselben Brutalität" vorgegangen wie in anderen Regionen, die sie vorübergehend erobert hatten.

Russland hat wiederholt bestritten, dass seine Truppen absichtlich die Zivilbevölkerung ins Visier nehmen würden. Gleichzeitig aber wurden durch massiven Raketen- und Drohnenbeschuss, insbesondere in den vergangenen Wochen, zahlreiche zivile Ziele getroffen, darunter Wohnhäuser oder die zivile Infrastruktur. Auch im nun befreiten Cherson ist die Lage diesbezüglich prekär. Daher auch die Mahnung Selenskyjs an die Bürgerinnen und Bürger, sich trotz der Freude über den Abzug der Besatzer auf nicht einfache Zeiten einzustellen: "Ich bitte euch, vergesst nicht, dass die Situation in der Region Cherson nach wie vor sehr gefährlich ist", sagte er auch mit Blick auf die Risiken, die von zurückgelassenen Minen und Sprengfallen ausgehen.

Am Abend hat die Ukraine dann auch einen weiteren, diesmal einen diplomatischen Sieg davon getragen. Die UN-Generalversammlung stimmte mit Zweidrittelmehrheit für eine Resolution, die Grundlage für spätere Reparationszahlungen Russlands an die Ukraine darstellen soll. Konkret stimmten dem Vorschlag – dessen Wirkung völkerrechtlich nicht bindend ist – 94 Staaten zu, darunter auch Österreich und alle anderen EU-Länder. Abgelehnt wurde er von 14 Staaten, zu denen auch China zählt. Indien enthielt sich, so wie auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Israel der Stimme. Insgesamt gab es 73 Enthaltungen.

Vom Westen kamen am Montag auch andere Signale zur weiteren Unterstützung der Ukraine. Im Bezug auf mögliche Friedensverhandlungen mit Moskau etwa bekräftigte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass allein Kiew über solche Gespräche entscheide. Ganz ähnlich äußerte sich auch EU-Außenbeauftragter Josep Borrell.

Verwirrung um Gespräche

Zuvor hatte ein Bericht der russischen Zeitung Kommersant für Verwirrung gesorgt, dem zufolge hochrangige Vertreter Russlands und der USA in der Türkei zu Gesprächen zusammengekommen seien. Aus Washington hieß es schließlich, CIA-Direktor William Burns mache der russischen Seite in Ankara die Konsequenzen eines eventuellen Einsatzes von Atomwaffen klar, führe aber keinerlei Verhandlungen. (Gerald Schubert, 14.11.2022)