
Ungarns Premier Viktor Orbán eckt bei seinen Kolleginnen und Kollegen in der EU immer wieder an.
Im schwierigen Verhältnis Ungarns zur EU geht es jetzt um richtig viel Geld. Im September drohte die EU-Kommission dem Land des rechtspopulistischen Regierungschefs Viktor Orbán eine Kürzung der EU-Hilfen in Höhe von 7,5 Milliarden Euro an. Es ist dies das erste Mal, dass Brüssel jenen Ende 2020 beschlossenen Rechtsstaatsmechanismus gegen ein Mitgliedsland anwendet, der die Möglichkeit der Streichung von Förderungen vorsieht.
Ungarn, mutmaßlicher Veruntreuer von EU-Geldern, muss nachweisen, dass es Maßnahmen gesetzt hat, die die missbräuchliche Verwendung der europäischen Finanzmittel abstellen. Noch in diesem Monat will die Europäische Kommission eine Empfehlung abgeben, ob Budapest dies hinreichend getan hat. Anfang Dezember soll der Rat der EU-Finanzminister dann mit qualifizierter Mehrheit eine Entscheidung treffen.
Darüber hinaus hält die EU-Kommission 5,8 Milliarden Euro zurück, die Ungarn aus dem außertourlichen Budgetrahmen der sogenannten Corona-Hilfen zustehen würden. Auch hier geht es um den Verdacht, dass Orbán immer wieder EU-Gelder mithilfe von "kreativen" Ausschreibungsverfahren abzweigt, um die Taschen der von ihm abhängigen Oligarchen zu füllen. Ende letzter Woche drangen jedoch Signale aus der Brüsseler Administration, die darauf hindeuten, dass sich die Kommission tatsächlich mit den von Budapest versprochenen Antikorruptionsmaßnahmen zufriedengeben könnte.
Neues Integritätsamt
Worum geht es? In hektischen Verhandlungen mit der Kommission hatten Orbáns Emissäre vorgeschlagen, ein Paket von 17 Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu erlassen, was die Brüsseler zu akzeptieren schienen. Inzwischen wurde das Paket in Gesetzesform gegossen und vom Parlament verabschiedet. Für das Kernstück der Maßnahmen, das sogenannte Integritätsamt, wurde eine Führungsspitze ausgewählt. Der Leiter des Amtes, Ferenc Biró, kommt von der Buchprüfungsfirma PWC und gilt nicht als regierungsabhängig.
Zugleich hat aber das Integritätsamt keine eigenen Ermittlungsbefugnisse. Es kann lediglich Hinweise entgegennehmen, Untersuchungen aus offenen Quellen anstellen, verdächtige Ausschreibungsverfahren stoppen und schließlich die – bei Korruptionsfällen in Orbáns Umfeld stets säumigen – Strafbehörden zum Tätigwerden drängen. "Es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung", meint Miklós Ligeti, der Leiter des ungarischen Ablegers der Anti-Korruptions-NGO Transparency International (TI). "Aber es ist nur ein kleiner Schritt." Immerhin könnten die neuen Regeln zu Ermittlungen "gegen die Nahrungsketten der Korruption an den Peripherien" führen, etwa gegen korrupte Bürgermeister und lokale Funktionäre der Orbán-Partei Fidesz, so Ligeti.
Der deutsche Europaabgeordnete Daniel Freund (Grüne), der vorige Woche Ungarn bereiste, hält die schaumgebremsten Maßnahmen Budapests jedoch nur für reine "Lippenbekenntnisse". "Die Maßnahmen berühren in erster Linie Vergabeverfahren für öffentliche Gelder", kritisierte Freund vergangenen Donnerstag. "Schritte, die die Durchsetzung des Rechtsstaats betreffen, sind darin nicht enthalten."
Justizreform in Aussicht
Doch am Freitag danach wollten Brüsseler Beamte von den Orbán-Leuten erfahren haben, dass der mächtige Regierungschef nun auch eine Justizreform in Aussicht stelle. Demnach soll der unabhängige Justizrat, den die Richter und Richterinnen selbst wählen, wieder ein entscheidendes Gewicht erhalten. Zuletzt hatte Orbán die Rolle des Justizrates zugunsten des Justizamtes, das Orbán-Leute kontrollieren, abgewertet. Den Obersten Gerichtshof ließ Orbán mit treuen Vasallen vollpacken.
Viele Richterinnen und Richter widersetzen sich dem Gleichschaltungsdruck. Die überraschend in Brüssel deponierte Absicht, nun eine Kehrtwende im Umgang mit der Justiz einzuschlagen, hat Orbán bislang weder öffentlich bekanntgegeben noch in Form von Gesetzesentwürfen sich materialisieren lassen. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit er bereit ist, in diesem für seinen dauerhaften Machterhalt zentralen Bereich die Hosen herunterzulassen. (Gregor Mayer aus Budapest, 15.11.2022)