Bürgerinnen und Bürger legen Nelken am Ort des Anschlags entlang der İstiklal-Straße ab.

Foto: IMAGO/Onur Dogman

Istanbul/Wien – Im Zusammenhang mit dem Anschlag in Istanbul mit sechs Toten ist die Zahl der Festnahmen auf 50 gestiegen. Das berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf den türkischen Justizminister Bekir Bozdağ am Dienstag. Zuvor hatte die Polizei noch von 48 Festnahmen gesprochen. Die Grünen-Politikerin Ewa Ernst-Dziedzic warnte unterdessen vor einem drohenden türkischen Angriff auf Kurdengebiete.

Bei dem Anschlag am Sonntag auf der belebten Einkaufsstraße İstiklal waren sechs Menschen getötet worden, mehr als 80 wurden verletzt. Die Polizei hatte anschließend eine Frau festgenommen, die die Bombe platziert haben soll. Die Frau ist laut den Behörden Syrerin und hat Verbindung zur "PKK/YPG/PYD". Aus Sicht der Türkei sind die syrische Kurdenmiliz YPG und deren politischer Arm PYD Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und ebenfalls "Terrororganisationen". Beide Gruppierungen dementierten jedoch jegliche Verantwortung für den Anschlag.

Einsatz gegen PKK eingeleitet

In einer Stellungnahme der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCKKCK) hieß es am Dienstag: "Der Versuch des faschistischen AKP-MHP-Staates, diesen Angriff unserer Bewegung in die Schuhe zu schieben und zu behaupten, er sei von Rojava aus verübt worden, ist eine höchst bewusste Manipulation. Jeder weiß, dass einer der wichtigsten Teile des kurdischen Völkermordes der faschistischen AKP-MHP-Allianz die Besetzung von Rojava ist. Es ist sehr offensichtlich, dass die AKP-MHP darauf abzielt, das notwendige Umfeld für eine Invasion zu schaffen, indem sie Rojava mit diesem Komplott ins Visier nimmt." Rojava ist der kurdische Name eines der de facto autonomen Gebiets in Nord- und Ostsyrien. Die KCK gilt als die zivile Dachorganisation der PKK. Recep Tayyip Erdoğans AKP hält im türkischen Parlament mit ihrem Partner, der ultranationalistischen Partei MHP, eine Mehrheit.

Unterdessen wurde nach Angaben des türkischen Innenministeriums in der osttürkischen Provinz Tunceli eine Operation gegen die PKK eingeleitet. 881 Menschen seien an dem Einsatz beteiligt. Die Operation ziele darauf ab, "Terroristen zu neutralisieren", die in der Region Zuflucht suchten. Das türkische Militär geht regelmäßig in den östlichen Provinzen des Landes sowie im Nordirak gegen die PKK vor.

Angriffe der Türkei befürchtet

Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, reagierte besorgt. Es würden sich die Anzeichen mehren, dass der türkische Präsident Erdoğan "den furchtbaren Terroranschlag in Istanbul als konstruierte Rechtfertigung dafür heranziehen könnte, abermals die Autonome Kurdenregion in Nordostsyrien beziehungsweise kurdische Regionen im Nordirak anzugreifen", warnte sie am Dienstag in einer Aussendung. Noch bevor die Ermittlungen richtig begonnen hätten, hätte die türkische Polizei bereits einen Tathergang präsentiert und mit dem Finger auf die Kurdenmiliz YPG gezeigt, welche die Beschuldigung zudem vehement zurückweise und den Anschlag auf Zivilist:innen verurteile, so die Abgeordnete.

"Wenn die Türkei angreift, werden Vertreibung, Tod und Terror die Zivilbevölkerung in der Region erfassen. Flucht wird für viele Menschen wieder die einzige Möglichkeit sein, dem Horror des Krieges zu entgehen", so Ernst-Dziedzic. Sie fordere "eine internationale, unparteiliche Untersuchung des Attentats in Istanbul".

US-Präsident Joe Biden sprach hat seinem türkischen Amtskollegen Erdoğan am Rande des G20-Gipfels auf der indonesischen Insel Bali sein "tiefes Beileid" aus. Biden habe Erdoğan versichert, dass die USA an der Seite des Nato-Partners stünden, teilte das Weiße Haus am Dienstag mit. Noch am Montag hatte der türkische Innenminister Süleyman Soylu die Kondolenzwünsche der USA zurückgewiesen. Er warf Washington vor, "Terrororganisationen" in Nordsyrien zu unterstützen. (APA, 15.11.2022)