Die Abgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic sieht bei ihrem Koalitionspartner den Versuch, mit billigem Populismus vom eigenen Versagen abzulenken.

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Noch reagieren die Grünen recht kontrolliert auf den Vorstoß ihres Koalitionspartners ÖVP, der die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) infrage stellt und zumindest überarbeiten will. Aber im Hintergrund sind die Grünen stinksauer. Vor allem auch, weil sich abzeichnet, dass das nicht ein singulärer Vorstoß eines einzelnen Funktionärs war, sondern eine parteiintern abgestimmte Vorgehensweise. ÖVP-Klubobmann August Wöginger hatte das Thema am Wochenende im Interview mit dem STANDARD hochgezogen, in den folgenden Tagen waren ihm immer mehr Proponenten beigesprungen, auch wenn Verfassungsministerin Karoline Edtstadler beteuert hatte, die ÖVP wolle keinesfalls an der EMRK rütteln.

Für Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ist die von Wöginger angestoßene Debatte um die EMRK "viel breiter" zu sehen. Anlass ist das gescheiterte europäische Asylsystem, sagte Nehammer am Mittwoch nach dem Ministerrat: "Österreich ist ein Binnenland und hat über 90.000 Asylanträge – das ist zu viel und zeigt, dass der EU-Außengrenzschutz nicht funktioniert."

Ewa Ernst-Dziedzic, Migrationssprecherin der Grünen, spricht aus, was viele in ihrer Partei derzeit nur hinter vorgehaltener Hand sagen. "Das ist ein plumper Versuch, mit Populismus vom Unvermögen, Flüchtlinge geordnet unterzubringen, abzulenken." Sie verweist im Gespräch mit dem STANDARD darauf, dass es vor allem ÖVP-geführten Bundesländern derzeit nicht gelinge oder gelingen wolle, die vereinbarte Anzahl an Asylwerbern unterzubringen. Was Ernst-Dziedzic besonders ärgert: "Hier findet eine atmosphärische und faktische Diskursverschiebung statt. Das ist eine unsägliche Debatte. Dabei ist allen Beteiligten klar, dass Österreich allein hier nichts bewirken kann, dass eine Änderung der Menschenrechtskonvention schlicht widersinnig ist, weil sie ein Grundpfeiler unserer Demokratie ist und deshalb in Verfassungsrang steht." Es sei eine humanistische Errungenschaft, "und wer sie infrage stellt, sägt an einem Grundkonsens der Zweiten Republik". Hier werde bewusst die gesellschaftliche Atmosphäre vergiftet.

Politisches Kleingeld

Die Grünen sind sehr darum bemüht, den Konflikt mit der ÖVP nicht eskalieren zu lassen, die Verärgerung ist aber groß. Andere Abgeordnete sprechen davon, dass die ÖVP mit einem billigen Ablenkungsmanöver von den eigenen Skandalen ablenken wolle – und das auf Kosten von Menschenrechten. "Mit Fluchtthemen politisches Kleingeld zu wechseln, ist ein Skandal", empört sich ein Kollege von Ernst-Dziedzic.

Stefan Kaineder, stellvertretender Bundessprecher und oberösterreichischer Landesrat der Grünen, sagt am Dienstag auf STANDARD-Anfrage, dass "ein Rütteln" an der EMRK "das Fundament unseres vereinten Europas ins Wanken" bringe. Nachdem Edtstadler bereits klargestellt habe, dass es keine Diskussion um die EMRK gebe, "würde ich mir erhoffen, dass dies auch den anderen zündelnden ÖVP-VertreterInnen klar wird". (völ, 16.11.2022)