Dem 47 Jahre alten Angeklagten wird vorgeworfen, er habe am Dreikönigstag versucht, seine Ex-Frau mit elf Stichen zu ermorden. Er bestreitet eine Tötungsabsicht und sagt, er habe sie nur "erziehen" wollen.

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Wien – Gut vier Stunden lang behält Christoph Bauer, Vorsitzender des Geschworenengerichts im Verfahren gegen Orhan C., seine Fassung. Am frühen Nachmittag platzt er dann doch. Konkret, nachdem der gerichtsmedizinische Sachverständige Christian Reiter in seinem Gutachten detailliert geschildert hat, welche lebensgefährlichen Verletzungen die elf Messerstiche, die der 47-jährige Angeklagte seiner Ex-Frau am Nachmittag des 6. Jänners auf einer Straße in Wien-Floridsdorf versetzt haben soll, verursacht haben. "Wie passt das mit Ihrer Verantwortung zusammen, dass Sie nur 'leicht gestochen' haben?", will der Vorsitzende vom Angeklagten wissen. "Ich habe mich bemüht, keine ernsthaften Verletzungen zu verursachen", lässt der Türke übersetzen. "Doch eine chirurgische Ader?", entgegnet Bauer sarkastisch. "Verzeihen Sie, aber das kann ich nicht runterschlucken. Ist das Ihr Ernst, Herr C.?", will sich Bauer versichern. "Ich meine es wirklich ernst", bleibt der Angeklagte bei seiner Darstellung.

Staatsanwältin Ursula Schrall-Kropiunig porträtiert den unbescholtenen Angeklagten als "Musterbeispiel eines Patriarchen. Er darf alles, die Ehefrau nichts." Bereits seine erste Ehe in der Türkei sei wegen seiner Gewalttätigkeit und Unterdrückung gescheitert. 2003 wurde ihm eine halbe Stunde lang das fünf Jahre jüngere spätere Opfer vorgestellt, eine Woche später wurde geheiratet. "Es war eine arrangierte Ehe", sagt das Opfer als Zeugin dazu. Die in Wien geborene Österreicherin mit türkischen Wurzeln hatte aus einer früheren Beziehung ein Kind, als diese Partnerschaft in Brüche ging, waren ihre Eltern entsetzt. "Damit die Eltern das Gesicht wahren, haben sie einen geeigneten Ehemann ausgesucht", fasst die Frau zusammen.

Kein Auszug nach der Scheidung

Noch 2003 zog C. nach Wien, zuletzt arbeitete er als Lieferfahrer. Es kamen Kinder zur Welt, und es kam zu Gewalttätigkeiten gegen diese und die Frau: Bereits 2012 wurde eine Wegweisung gegen den Angeklagten ausgesprochen. 2018 verlangte die Gattin erstmals die Scheidung. Seine Reaktion laut ihrer Aussage: "Er hat gelacht und gesagt: "Das kommt überhaupt nicht infrage. Entweder, du bist unter der Erde, oder die Ehe geht weiter." Sie nahm sich einen Anwalt, im Frühjahr 2019 wurde die Scheidung rechtskräftig. C. blieb weiter in der Wohnung, erst im Mai zog er in eine Gemeindewohnung, die seine Frau ihm besorgt hatte.

Danach folgte ein neuerliches Betretungsverbot, die Kinder weigerten sich, ihren Vater zu sehen – bis in den vergangenen Herbst gab es nur zwei Treffen in einem Besuchscafé. Die Frau fand einen neuen Partner, am Nachmittag des Tattages verließ sie mit diesem die Wohnung. Auf der Straße wartete der Angeklagte. "Wer ist das?", soll er laut der Zeugin gefragt haben. Ihre Antwort: "Das geht dich nichts an, wir sind seit drei Jahren geschieden. Das ist mein Freund." – "Es geht mich alles an, was dich angeht", soll C. geantwortet und den neuen Partner dann bedroht haben.

Mit dem Versprechen, die Kinder nochmals zu fragen, ob sie C. nicht doch sehen möchten, wurde die Frau den Angeklagten los, anschließend kontaktierte das Paar die Polizei. Die Beamten erreichten den Angeklagten telefonisch und sprachen eine Wegweisung aus, C. legte während des Gesprächs auf. Er fuhr zu sich nach Hause und holte eines der beiden Küchenmesser, die er schon vor Jahren aus der ehelichen Wohnung mitgenommen hatte. Dann wartete er im Auto auf die Rückkehr seiner Frau.

Polizist nahm Notruf nicht ernst

Die kam alleine, da der neue Partner noch etwas zu erledigen hatte. Als sie ihren Ex-Mann aussteigen sah, rief sie sofort den Polizeinotruf. Die Reaktion des Beamten: "Veräppeln Sie wen anderen" und die Beendigung des Gesprächs. Klingt unglaublich? Bei der Wiener Polizei bestätigt man auf Nachfrage des STANDARD den Vorfall, der Beamte sei mittlerweile angezeigt worden und arbeite nicht mehr in der Landesleitstelle, betont man bei der Pressestelle.

Die Frau schildert in Abwesenheit des Angeklagten, dass C. sofort begonnen habe, ihr in den Bauch zu stechen. Sie habe verzweifelt versucht, sich zu wehren, dabei wurden auch Sehnen ihrer linken Hand durchtrennt. Mindestens einmal habe C. während der Stiche "Verrecke!" gesagt und auch "Du hast mein Leben zerstört!" geschrien. Erst als drei Passanten, ein älteres Ehepaar und ein türkischer Mann, sich bemerkbar machten, ließ C. vom Opfer ab. Dass die Frau überlebt überlebt hat, gleicht einem Wunder: Ein zufällig vorbeikommender Arzt leistete erste Hilfe, als die Frau ins Spital gebracht wurde, hatten sich bereits eineinhalb bis zwei Liter Blut in ihrem Bauchraum angesammelt, berichtet Sachverständiger Reiter.

Angeklagter habe Ex-Frau "verletzen müssen"

Der Angeklagte C. erzählt die Geschichte anders. Als er seine Frau am 6. Jänner zum zweiten Mal traf, habe sie ihn fotografiert und die Polizei gerufen. "Sie hat gelacht und gesagt, dass ich jetzt meine Kinder nie wiedersehen werde", behauptet er, was die Frau bestreitet. "Deshalb habe ich sie verletzen müssen", lässt C. übersetzen. Denn: "Sie hat auch meine Psyche zerstört." Beim ersten Satz hakt Vorsitzender Bauer nach: "Sie haben gesagt, Sie hätten ihre Ex-Frau 'verletzen müssen'. Können Sie mir erklären, warum? Ich kann es nämlich nicht nachvollziehen. Haben Sie das im Sinne einer Bestrafung gemacht? Als Züchtigung? Als Erziehungsmaßnahme?" – "Ich wollte sie auch erziehen", bestätigt der Angeklagte.

Etwas später präzisiert er: "Ich wollte sie nur unterrichten, dass sie sich nicht so verhalten soll. Ich habe sie nur leicht gestochen und nicht so tief." Ihm sei es um sein Besuchsrecht der Kinder im Teenageralter gegangen. "Haben Sie in Erwägung gezogen, dass die Kinder Sie nicht sehen wollten?", probiert es der Vorsitzende. "Ich bin der Meinung, dass sie von ihrer Mutter beeinflusst wurden", kann C. sich das überhaupt nicht vorstellen. Er habe den Nachwuchs schließlich auch immer wieder von der Schule abgeholt. "Ja, und danach haben Sie die Kinder immer wieder zwei Stunden im Auto sitzen lassen, während Sie in einem Wettbüro waren", hält ihm Bauer die Aussage eines Kindes vor. "Das waren keine zwei Stunden", entgegnet der zumindest damals spielsüchtige Angeklagte.

Telefonische Wegweisung ignoriert

Die seltsame Weltsicht des Zurechnungsfähigen äußerst sich auch an anderen Stellen. So sagt er bezüglich der telefonischen Wegweisung durch die Polizei am Tattag: "Sie haben mir nicht gesagt, dass ich nicht hingehen darf. Sie haben nur gesagt, es ist verboten hinzugehen", argumentiert er zur Verwunderung der Anwesenden. Der Vorsitzende bittet den Dolmetscher zu prüfen, ob das wirklich C.s Antwort sei, der Angeklagte bleibt dabei.

Ob er sich mit der Scheidung 2019 abgefunden habe, will Beisitzerin Corinna Huber wissen. "Sie kann ja nicht ewig lang auf mich warten", versucht C., sich großzügig zu geben, um dann anzufügen: "Aber ich habe gehofft, dass sie zu mir zurückkommt." Ein Geschworener will auch etwas wissen: "Was waren denn Ihrer Meinung nach die Gründe für die Scheidung?" – "Ein Grund könnte sein, dass sich Geschiedene freier bewegen können. Das hat sie von Bekannten gehört", lautet die Antwort des Angeklagten, der seine Frau laut ihrer Aussage dazu zwang, in der Beziehung ein Kopftuch zu tragen.

"Ich habe nur leicht gestochen"

Insgesamt lautet das Selbstbild des Angeklagten: "Ich bin eigentlich gegen Gewalt. An diesem Tag ist so viel zusammengekommen", sieht er eine unglückliche Verkettung. "Jo, jo, so ist das", kann sich Bauer da nicht verkneifen. Auf Nachfrage seines Verteidigers Gerald Holzwarth bestreitet C. auch, von Passanten zurückgerissen worden zu sein. "Haben Sie selbstständig gestoppt?", will der Rechtsvertreter wissen. "Das stimmt", betont der Angeklagte. Und wiederholt: "Ich hab nur leicht gestochen, dann bin ich aufgestanden und weggegangen." Überhaupt habe er mit der 11,5 Zentimeter langen Klinge nur viermal zugestochen, behauptet C. darüber hinaus. "Und von wem sind die anderen sieben Stiche?", will der Vorsitzende wissen. C. kann es ihm nicht sagen. Das Küchenmesser habe er überhaupt nur geholt, um seine Ex-Gattin "zu erschrecken", versucht der Angeklagte dafür zu erklären.

Im Schlussplädoyer fordert Staatsanwältin Schrall-Kropiunig eine lebenslange Haftstrafe, da es nur Glück gewesen sei, dass die Frau nicht gestorben ist. Verteidiger Holzwarth sieht dagegen einen Rücktritt vom Mordversuch, da sein Mandant ja aufgehört habe. Er versucht den Geschworenen klarzumachen, dass der Streit ums Besuchsrecht Zorn im Angeklagten aufgestaut habe und sieht daher maximal versuchten Totschlag, eher aber eine absichtliche schwere Körperverletzung. In seinem Schlusswort sagt der Angeklagte erstmals, dass er bereue, was er getan habe. "Ich hoffe, sie wird wieder gesund", gibt er den Laienrichterinnen und -richter noch auf den Weg zur Urteilsfindung mit.

Einstimmiges Urteil

Die Suche dauert nicht lange: Bereits nach einer Stunde wird C. einstimmig wegen Mordes verurteilt und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Da er Nichtigkeit und Berufung anmeldet, ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. Dass es nur beim Versuch geblieben sei, habe in diesem Fall eine geringere Bedeutung als in anderen Prozessen, begründet Bauer das Strafmaß. "Es hatte Nichts mit Ihrem Handeln zu tun", stellt er klar. Das Opfer, dem 55.000 Euro Schmerzengeld zugesprochen werden, habe einfach "riesengroßes Glück gehabt". Auch ein Geständnis oder "irgendeinen Beitrag zur Wahrheitsfindung" konnte das Gericht nicht erkennen, erklärt der Vorsitzende. (Michael Möseneder, 15.11.2022)