Ein großer Teil des Gases, das über Tanker nach Europa kommt, stammt aus Fracking, kritisieren Umweltschützer.

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Wie ein Kapitän auf der Brücke steht Florian Weyer am Fenster seines Chefbüros im siebten Stock der Hafenverwaltung. Mit dem Arm zeigt er gen Westen: "Vor dort werden die Gastanker kommen, wenn die Bauarbeiten im Hafen zu Ende sind."

Aus den USA im Westen wird ab nächstem Jahr Flüssigerdgas – genannt LNG – nach Le Havre transportiert, um in die europäischen Leitungen eingespeist zu werden. Weyer nennt es "eine Übergangslösung gegen die aktuelle Energieknappheit". Im Unterschied zu den vier bestehenden Flüssiggas-Terminals Frankreichs wird der Terminal in Le Havre Gas aus entfernten Ländern wie Norwegen, Katar oder den USA verarbeiten können. "Der Hafen in der Normandie wird damit auf einen Schlag zehn Prozent des französischen Gasverbrauchs stellen", schätzt Weyer.

Der Laie staunt, dass ein paar Tanker die permanente Leistung einer Pipeline ersetzen können. Möglich macht es die Kühlung auf minus 162 Grad, die Erdgas verflüssigt. Dieses Liquid Natural Gas, also flüssiges Erdgas, nimmt 600-mal weniger Platz ein als im gasförmigen Zustand. Ein 300 Meter langer Tanker transportiert im Schnitt 160.000 Kubikmeter LNG, bevor es im Zielhafen wieder erwärmt wird. Die Riesenschiffe mit typischen kuppelförmigen Tanks können in Le Havre gerade noch anlegen: "Unsere größte Schleuse, welche die Docks vor dem acht Meter hohen Gezeitenwechsel schützt, ist 360 Meter lang", weiß Weyer.

Florian Weyer, Hafenchef, schwärmt vom Terminal.
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"Doppelt verschmutzend"

Viel mehr ist gar nicht nötig für einen mobilen LNG-Hafenterminal. Der französische Konzern Total Energies liefert eine schwimmende Relaisstation, die derzeit in China Dienst tut und im Juni 2023 in Le Havre ankommen soll. Sie soll das angelieferte LNG aufwärmen und in Gas zurückverwandeln. Solche mobilen Gasterminals sind derzeit von Portugal bis an die deutsche Nordsee geplant. "Sie ersparen uns aufwendige und langwierige Bauarbeiten für einen fixen Terminal", sagt Weyer. "Außerdem ist der LNG-Terminal problemlos abbaubar, wenn die Energieknappheit in Europa einmal überwunden sein wird."

LNG, Europas Notlösung für russisches Erdgas? Xavier Lemarcis kann darüber nur lachen. Beim Mittagessen im Bahnhofsbistro von Le Havre sagt der Vertreter des Umweltverbandes France Nature Environnement kategorisch: "LNG löst keine Probleme, LNG schafft Probleme." Dann legt der ehemalige Chemie- und Physiklehrer seine Gabel weg und erklärt in einem Atemzug: LNG benötige selbst eine riesige Menge an Energie für die Kühlung, dann für die Wiedererwärmung. In Sachen CO2-Bilanz stehe Flüssiggas schlechter da als Pipelinegas, und nicht viel besser als Braunkohle. Zudem wirke LNG doppelt verschmutzend: Für die Wiedererwärmung mit Meerwasser müsse Chlor zugegeben werden. Und vor allem stamme das meiste Flüssiggas westeuropäischer Hafenterminals aus den USA. "Das heißt", so Lemarcis, "es handelt sich um Frackinggas."

LNG löst keine Probleme, sagt Aktivist Xavier Lemarcis.
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Fracking, das Herauspressen fossiler Energie durch Druck und Chemikalien aus Schiefergestein, darf in Frankreich oder in Deutschland aus ökologischen Gründen nicht betrieben werden. "Der Import ist hingegen zugelassen", ärgert sich Lemarcis. "Damit profitieren wir vom Schieferöl, das wir bei uns nicht zulassen wollen!"

Da der Zutritt zum Baugelände des zukünftigen LNG-Terminals beim Quai Bougainville Sud gesperrt ist, kann Lemarcis nur auf der Fahrt entlang des unübersehbar großen Hafengeländes zeigen, was ihm als Chemiker aufgefallen ist: "2,3 Kilometer weiter befinden sich drei Dünger- und andere Fabriken der Seweso-Kategorie. Das ist alles hochexplosiv – nicht gerade das, was man sich in der Nähe eines Gasterminals wünschen würde."

Gas für Deutschland

Nun gesellt sich Nicolas Guillet zur Hafenführung. Der Vertreter der Linkspartei "Insoumis" (Unbeugsame) in Le Havre zieht eine Petition hervor, die gegen die überstürzte Genehmigung des Terminals protestiert. Der Verfassungsrat in Paris habe festgehalten, dass der LNG-Terminal nur zulässig sei, wenn die Versorgungssicherheit Frankreich "schwer bedroht" sei. Das sei aber zumindest in diesem Winter nicht der Fall; die französischen Gasspeicher seien voll.

Bloß ist das in Le Havre ankommende LNG nicht nur für Frankreich gedacht, sondern auch für andere europäische Länder. "Namentlich Deutschland könnte Gas aus Le Havre erhalten", schätzt Guillet. Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz hatten im September vereinbart, dass Deutschland Strom nach Frankreich liefere, solange die französischen Atomkraftwerke in Serie ausfielen; im Gegenzug liefer Frankreich Gas über den Rhein. Deutschland baut zwar zwei eigene LNG-Terminals – das erste in Wilhelmshaven soll in wenigen Tagen starten –, kann aber Gas aus Frankreich gut gebrauchen. Auch Länder wie Belgien kommen als Abnehmer infrage. Im Dezember will Macron mit seinen Amtskollegen aus Spanien und Portugal ferner den Bau einer neuen Meerespipeline von Barcelona nach Marseille beschließen.

Von dem neuen Gas, das durch Westeuropa fließen wird, dürfte mehr als die Hälfte gefrackt sein, schätzt Guillet. Er bedauert, dass seine Petition erst 3000 Unterschriften gegen den Terminal in Le Havre zusammengebracht hat. In der Hafenstadt können sich offenbar die meisten mit der LNG-Technologie abfinden. Zumal ja alle Verantwortlichen mit der Hand auf dem Herz beteuern, es handle sich nur um eine Übergangslösung. (Stefan Brändle aus Le Havre, 16.11.2022)