Dirigent Omer Meir Wellber.

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Wien – "Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht." So heißt es in Georg Büchners Woyzeck. Mit Musikstücken ist es mitunter so ähnlich. Von ihrer Tiefe bis zur Abgründigkeit liegt manchmal nur ein Alzerl. Es ist ein Rätsel, wie Mozart in seinem Klavierkonzert K 467, das ausgerechnet in C-Dur steht, zu solchen Eintrübungen, von grüblerischer Melancholie bis zu bitterem Schmerz (und wieder zurück), gelangt.

Die Interpretation, die am Montag im Wiener Konzerthaus zu erleben war, schien diesen Dingen auf der Spur, weil die Wiener Symphoniker unter dem Dirigat von Omer Meir Wellber willens waren, einen schlanken, wohldosierten Ton in die Nähe von Ausdrucksextremen zu führen, vor allem aber, weil der Solist Jan Lisiecki mit seiner lebhaften, pointierten Spielfreudigkeit das zeigte, was dem 27-Jährigen gern schlagwortartig bescheinigt wird: "Reife".

Meisterhaft

Hochaufmerksam folgte er den tonalen und emotionalen Nuancen mit Lust an der Akzentuierung und Zuspitzung. Dass seine eigene Kadenz zum ersten Satz etwas gar schlicht geriet, dass es im Zusammenspiel des Orchesters einige Unschärfen gab, war bei der Zugabe wieder vergessen. Wie Lisiecki Frédéric Chopins Es-Dur-Nocturne op. 9/2 spielte: fast schon meisterhaft.

Die Abgründe, die sich in Gustav Mahlers fünfter Symphonie auftun, wirkten an diesem Abend im Vergleich zu Mozart weniger als Kontrast, sondern eher wie ein veränderter Blick auf eine ähnliche Beziehung zwischen gefährdeter Schönheit sowie Schmerz und Qual.

Mit enormer Suggestivität und Präsenz erzielte Wellber mit den fulminanten, klangmächtigen, hervorragend vorbereiteten Symphonikern den Eindruck, als läge in der Zerrissenheit des Stücks der Schmerz eines Jahrhunderts. Die Ausführung war stark in der Emotionalität, und so blieb da und dort noch Luft nach oben. Jubel und Dankbarkeit waren groß. (daen, 15.11.2022)