Im Gastkommentar wirft der Theologe und Ethiker Kurt Remele einen Blick zurück in die USA der späten 1960er-Jahre. Er sieht Parallelen zum Klimaprotest heute.

Das erzürnt die Autofahrenden: Ein Klimaaktivist hat sich im morgendlichen Berufsverkehr auf die Straße geklebt.
Foto: Imago / Martin Dziadek

Am 17. Mai 1968 verschafften sich neun Vietnamkriegsgegner Zutritt zu einem Regierungsgebäude in Catonsville nahe Baltimore. Die Aktivistinnen und Aktivisten der Antiwar Catholic Left, zwei Frauen und sieben Männer, entwendeten knapp 400 Akten zur Einberufung zum Kriegsdienst in Vietnam. Sie warfen sie in Drahtkörbe, zündeten sie auf einem Parkplatz mit Napalm an, beteten das Vaterunser und warteten auf ihre Verhaftung.

Napalm ist eine zähflüssige Substanz, die auf der Haut klebt und mit extremer Hitze verbrennt. Im Vietnamkrieg warf die US-amerikanische Luftwaffe 200.000 Tonnen Napalm als Brandbomben ab, auch auf tausende vietnamesische Kinder.

Konfrontatives Vorbild

Weil alle bisherigen Proteste gegen den Vietnamkrieg nichts gebracht hatten, griffen die "Catonsville Nine" zu einer spektakulären und konfrontativen Taktik, die Gewalt gegen Personen jedoch bewusst ausschloss. Das Medienecho war enorm. Die Aktion wurde als radikal, fanatisch und kontraproduktiv verurteilt. Sie wurde jedoch auch zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Aktionen zivilen Ungehorsams.

Der Strafprozess gegen die "Catonsville Nine" fand im Oktober 1968 statt. Einem der Angeklagten, dem Jesuiten Daniel Berrigan, diente die Gerichtsverhandlung als Vorlage zu dem vielbeachteten dokumentarischen Theaterstück "Der Prozess gegen die Neun von Catonsville". Darin rechtfertigt Berrigan seine Teilnahme an der Aktion mit folgenden oft zitierten Worten: "Verzeihung, liebe Freunde, dass wir gegen die gute Ordnung verstoßen, indem wir Papier verbrennen statt Kinder."

"Die Argumentationsstrategie der Letzten Generation ist jener des Jesuiten nicht unähnlich."

Berrigans Rechtfertigung, die US-Regierung habe in Vietnam Kinder aus Fleisch und Blut verbrannt, die "Catonsville Nine" jedoch lediglich Einberufungsakten aus Papier, enthält ein unabweisbares Wahrheitsmoment. Die Argumentationsstrategie der Letzten Generation, die die irreversible, rapide fortschreitende Erderhitzung und die halbherzigen politischen Gegenmaßnahmen handgreiflich ins Bewusstsein ruft, ist jener des Jesuiten nicht unähnlich. Die Straßenblockaden, bei denen sich Aktivisten an der Fahrbahn festkleben, ließen sich sogar mit folgenden Worten rechtfertigen: "Verzeihung, liebe Freunde, dass wir gegen die gute Ordnung verstoßen, indem wir den Autoverkehr zum Stillstand bringen statt das Leben auf der Erde."

Appell statt Strategie

Die Blockade einer Straße, auf der Autos klimaschädliche Abgase ausstoßen, oder eines Flughafens, auf dem Privatjets parken, haben freilich einen direkten, für die Öffentlichkeit gut nachvollziehbaren Zusammenhang mit der drohenden Klimakatastrophe. Ihr symbolischer Gehalt ist wesentlich leichter verständlich als die Schüttaktionen gegen Kunstwerke, deren klimabezogene Relevanz wesentlich schwieriger zu vermitteln ist.

Selbst demokratisch verfasste Staaten unter der Führung gewählter Politikerinnen und Politiker sind nicht davor gefeit, durch ihr Tun, Nichtstun oder zu geringes Tun Verbrechen zu begehen, und dies mit der ausdrücklichen oder stillschweigenden Zustimmung "ehrenwerter" Bürgerinnen und Bürger. Das war im Vietnamkrieg so, das ist offensichtlich auch im Hinblick auf die Erderhitzung zunehmend der Fall. Noch etwas: Die Protesthandlungen der Letzten Generation sind vorrangig als moralische Appelle und prophetische Ausdruckshandlungen zu verstehen. Detaillierte strategische Überlegungen und ein Spitzenplatz in der Beliebtheitsskala spielen eine sekundäre Rolle. Man mag dies kritisieren, legitim ist es allemal. (Kurt Remele, 16.11.2022)