Die Forschung hat viele Erkenntnisse durch Versuchstiere gewonnen. Künftig sollen mehr Alternativen zur Verfügung stehen, etwa durch Organ-on-Chip-Technologien.
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Experimente an Versuchstieren wie etwa Ratten sind seit langer Zeit fester Bestandteil der medizinischen und pharmazeutischen Forschung. Doch abgesehen vom dafür nötigen zeitlichen und finanziellen Aufwand sprechen auch ethische Aspekte für eine Reduktion von Tierversuchen. Einen Ausweg bieten Organoide, also Miniaturmodelle von Organen, die im Labor hergestellt werden.

Im Gegensatz zu zweidimensionalen Zellverbänden, die nur eine Schicht bilden, wachsen die Zellen in Organoiden auch übereinander und stellen so die Situation im menschlichen Körper viel realistischer dar. Charlotte Ohonin verkauft mit ihrem Start-up Norganoid ein System, mit dem Kunden beliebige Arten dieser wenige Millimeter großen Mini-Organe herstellen können. "Unser Gerät soll so breit wie möglich einsetzbar sein und je nach Fragestellung für verschiedene Krankheiten adaptiert werden können", erklärt Ohonin.

Variable Stammzellen

Dies wird erreicht, indem eine mit Stammzellen und Nährstoffen beladene Flüssigkeit auf einen Chip gebracht wird und dort in eine Kugelform wächst. Stammzellen sind Zellen, die noch nicht auf einen bestimmten Zelltyp festgelegt sind und sich wie in frühen Stadien der Embryonalentwicklung in verschiedene Zellarten entwickeln können.

Das Besondere dabei ist, dass man auch bereits fertig entwickelte Gewebezellen aus Blut oder Haut durch das Aktivieren und Ausschalten einzelner Gene im Labor dazu anregen kann, induzierte Stammzellen zu bilden. Diese können wiederum mit Wachstumsfaktoren behandelt werden, um sich gezielt in Zellarten wie Nerven-, Leber- oder Muskelzellen zu entwickeln.

Präzisionsmedizin

Somit können Zellen von Patienten entnommen und zu Stammzellen rückgebildet werden, die dann zu dem gewünschten Gewebe heranwachsen. Werden aus den Stammzellen Gehirn-Organoide gezüchtet, kann an einem Modell für eine Krankheit wie Alzheimer geforscht werden, das mit dem genetischen Profil des Patienten übereinstimmt. Werden die gezüchteten Organmodelle auf dem Chip mit zu untersuchenden Wirkstoffen in Kontakt gebracht, kann die vom Medikament ausgelöste Wirkung überprüft werden.

Dies ermöglicht eine Präzisionsmedizin, bei der nicht ein Medikament allen Patienten mit der gleichen Krankheit gegeben wird, sondern bei der anhand der individuellen Merkmale die jeweils beste Therapie gewählt wird. Da auf einem Chip 96 der Organmodelle Platz finden, können mehrere Versuche schnell und kostengünstig gleichzeitig durchgeführt werden.

Der Vorteil des Systems von Norganoid ist, dass alle Komponenten in einem Gerät vereint sind. Interessierte Forschungsinstitute oder Firmen müssen nicht extern Stammzellen züchten lassen und an anderen Standorten die Versuche durchführen, sondern können selbst alle Schritte an einem Ort erledigen.

Fehlerquellen ausschalten

Indem das Gerät viele Abläufe automatisiert, können Kosten eingespart und Fehlerquellen vermieden werden. Andere Organ-on-Chip-Anbieter können zudem meist nur zweidimensionale Zellschichten züchten, während der Prototyp von Charlotte Ohonin dreidimensionale Gewebestrukturen ermöglicht, womit die gewonnenen Forschungsergebnisse für die pharmazeutische Industrie besser verwertbar sind.

Tierversuche könnten damit großteils ersetzt werden, sagt Ohonin: "Wir haben sehr viel aus Tiermodellen gelernt, und unsere ganze medizinische Forschung basiert darauf. Aber für bestimmte Fragestellungen muss es alternative Wege geben, und da denke ich, dass wir mit Organ-on-Chip- und Stammzellenforschung erfolgreich sein können."

Die 35-jährige Autodidaktin und Gründerin Charlotte Ohonin.
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"Die ersten Jahre waren hart"

Die Idee zu der Firma kam Ohonin während einer Forschungsarbeit an der Uniklinik Leiden in den Niederlanden. Sie züchtete aus Stammzellen ein Netzhautmodell und sah nach fast 200 Tagen, dass das Gewebe realistisch war und sich ähnlich wie im Körper verhielt. "Ich war schnell Feuer und Flamme dafür, das ganze Prinzip zu beschleunigen und aus der Grundlagenforschung zu bringen, weil es hohes Anwendungspotenzial hat. In dieser Zeit hörte ich einen Vortrag über zweidimensionale Organ-on-Chip-Technologien und zählte eins und eins zusammen. Ich dachte, wenn das in 2D funktioniert, muss es in 3D auch funktionieren", sagt sie.

2017 kam sie mit dem Plan, ihr Studium der Molekularbiologie abzuschließen, zurück nach Graz, aber die Idee war bereits geboren, und so gründete sie mithilfe eines Mentors ihre Firma. Die Anfänge gestalteten sich schwierig, da Ohonin zwar ein Patent auf ihre Erfindung hatte, aber Investoren die Wirtschaftlichkeit infrage stellten. Förderungen blieben bis auf einen kleinen Kredit vom Science Park Graz – dem Start-up-Center der TU Graz, der Universität Graz und der Medizinischen Universität Graz – zunächst aus. "Die ersten Jahre waren hart. Ich baute alles außerhalb der Uni mit dem Geld auf, das ich nebenbei verdiente, und verschuldete mich dafür privat bei Familie und Freunden."

Expansion geplant

Mittlerweile ist das Schwierigste überstanden. Es laufen Gespräche mit nationalen und internationalen Investoren, und auch eine Expansion außerhalb Österreichs steht im Raum. Weitere Patente stehen kurz vor der Anmeldung, erste größere Aufträge konnten eingeholt werden, weshalb für die nächsten Förderanträge ein erfolgreicherer Ausgang erwartet wird. Die Firma soll bald von sechs auf zehn Beschäftigte wachsen und übersiedelt mit Jahreswechsel ins Zentrum für Wissens- und Technologietransfer in der Medizin (ZWT Accelerator) in Graz.

Ohonin, die in Ghana geboren wurde und mit neun Jahren nach Deutschland kam, freut sich, dass ihr Einsatz langsam Früchte trägt und sie Schritt für Schritt das Potenzial ihrer Idee ausschöpfen kann. Nur eines blieb im dichten Lebenslauf vorerst auf der Strecke: "Mein Studium hat pausiert", lacht Ohonin. "Seit dem Start-up bin ich wenig zum Studieren gekommen, obwohl mein Umfeld hochakademisch ist. Aber ich hole es irgendwann nach."(Markus Plank, 21.11.2022)