Es hört nicht auf. Kein Tag vergeht, ohne dass Stimmen aus der ÖVP ein Überarbeiten der Europäischen Menschenrechtskonvention fordern. Ziel sei ein zeitgemäßerer Umgang mit Asyl und Migration, wird argumentiert. Die Entgegnung von ÖVP-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, die ein Infragestellen der Konvention ablehnt, steht ziemlich allein auf weiter Flur.
Die menschenrechtskritischen Wortspenden kommen aus den Bundesländern – etwa von ÖVP-Burgenland-Chef Christian Sagartz. Er weitete die schwarzen Renovierungswünsche auf die Genfer Flüchtlingskonvention aus. Damit trat er dem Thema zumindest näher. Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert Rechte und Pflichten von Flüchtlingen, während in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über Flüchtlingsfragen kein Wort steht.
War das ÖVP-Klubchef August Wöginger nicht bewusst, als er die EMRK im STANDARD-Interview zur Disposition stellte? Wir wissen es nicht – und eine Präzisierung kam von Wöginger nicht.
Diese Aufgabe fiel stattdessen dem steirischen Landeshauptmann Christopher Drexler (ÖVP) zu. Das Problem sei nicht der Wortlaut der Konventionen, sondern die Spruchpraxis des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, sagte er. Tatsächlich prüft dieses Höchstgericht im Fall abgewiesener Flüchtlinge, ob ihre Abschiebung ihr verbrieftes Recht auf Leben gefährden oder das Verbot der Folter brechen würde. Viele können bleiben. Auch das Recht von Migranten auf Familiennachzug wird geprüft.
Rechte erster und zweiter Klasse
Will Drexler, dass diese grundlegenden europäischen Menschenrechte in Asylfragen künftig weniger strikt ausgelegt werden? Soll das Familienleben von Europäern mehr wert sein als jenes von Menschen aus Afrika oder Asien? Die Folge wären jedenfalls Rechte erster und zweiter Klasse. Das wäre das Ende der internationalen, unteilbaren Menschenrechte, die erkämpft und blutig erlitten worden sind.
Damit stellt sich die Frage, welches Motiv stark genug sein kann, um in der angeblich christlich-sozialen ÖVP eine solche Antiasyl- und Antimenschenrechtsstimmung zu schaffen. Die Aussicht auf echte Änderung der Konventionen kann es nicht sein: Dass Forderungen aus der österreichischen Kanzlerpartei den Europarat oder die Vereinten Nationen zu einem solchen Umdenken bringen, ist mehr als unwahrscheinlich.
Also bleibt als Grund die schnöde Innenpolitik – und hier wohl der Aufstieg der FPÖ in den Umfragen vor dem Hintergrund einer chronifizierten Asylunterbringungskrise, fortgesetzter Chat-Affären und des allgemeinen Bevölkerungsunmuts wegen der Inflation. Die Menschenrechte als Feindbild, verbunden mit Flüchtlingen und Migranten, bieten sich für eine Mitte-rechts-Partei am einfachsten an, um einer rechten Partei potenzielle Wählerinnen und Wähler abspenstig zu machen – auch wenn aus der FPÖ auf die ÖVP-Vorstöße derzeit nur Häme kommt.
Was dabei völlig auf der Strecke bleibt, sind Lösungen für die anstehenden Probleme. Etwa durch konstruktives Eingehen auf Asylverbesserungsvorschläge der EU-Kommission. Hier steht Österreich – Stichwort Flüchtlingsverteilung – seit Jahren auf der Bremse, obwohl das Land profitieren würde. Stattdessen liefert die Kanzlerpartei taktische Spielchen mit den Menschenrechten. Das ist politisch destruktiv. (Irene Brickner, 15.11.2022)